Hinter dem roten Backsteinbau Berliner Allee, Ecke Liebermannstraße steht noch ein unscheinbares Verladegebäude der Raspe-Werke, bewacht von einem alten BT-6 Postenturm. Bei dem zweistöckigen Gebäude mit Keller und Gleisanschluss an die Industriebahn handelt es sich um einen Teil des Apparate-Werkes Carl Otto Raspe. Das kleine Fabrikgebäude wurde schon 1939 errichtet, hier begann die Rüstungsproduktion.
MfS-Postenturm BT-6, Waffenkammer und Munitionsbunker Neumagener Straße 33, Mai 2023
Raspe schloss 1941 einen Rüstungsgütervertrag mit dem Deutschen Reich. Im Anschluss bekamen die Brüder Hans und Carl Otto Raspe einen Kredit der Bank der Deutschen Luftfahrt AG. Sie mussten schnell expandieren, der gesamte L-förmige rote Backsteinriegel Berliner Alle Ecke Liebermannstraße wurde 1941 als Erweiterung der Raspe-Werke nach den Plänen von Richard Schubert für die Kriegsgüterrüstung gebaut. Heute ist der Gebäudekomplex unter dem Namen Askania-Werke am geläufigsten.
Leiter für Meldedraht, Teil der elektronischen Objektsicherung auf der Umgebungsmauer, Mai 2023
Denn ab 1943 wurden die ausgebombten Askania-Werke in den Raspewerken untergebracht. Beide Betriebe arbeiteten jetzt fast ausschließlich an der Fluginstrumentenfertigung. Kurz nach Kriegsende, im August 1946 zieht die SAG „Sowjetische Aktiengesellschaft in Deutschland“ in das Werk ein und übergibt es 1953 dem Ministerium für Staatsicherheit.
Ehemaliges Verladegebäude Raspe-Werke, später MfS Hauptabteilung Personenschutz, Motorradeskorte und Wachbataillon mit Waffenkammer und Munitionsbunker, Neumagener Straße 33, Mai 2023
Während im Hauptgebäude mehrere Polizeidienststellen und das MfS sitzt, kommt dem alten Gebäude an der Industriebahn eine besondere Verwendung zu. Hier hat die Hauptabteilung Personenschutz die Motorradeskorte der DDR-Staatsregierung und das Wachbataillon untergebracht. Im Keller befinden sich die Raumschießanlage, die Waffenkammer und der Munitionsbunker.
Ehemalige Verladeseite Raspe-Werke Industriebahn mit Gleis (Postenturmseite), Neumagener Straße 33, Mai 2023
Die Aufgaben der Regierungseskorte und des Wachbataillons waren zahlreich. Vom einfachen Objektschutz durch das Wachbataillon über die mobile Sicherung von Regierungsmitgliedern bei Veranstaltungen oder Reisen bis hin zum Schutz der Siedlung Wandlitz fiel vieles darunter. Nicht zufällig lag das Objekt an der Protokollstrecke nach Wandlitz. Während das Hauptgebäude an der Liebermannstraße schon seit Ewigkeiten saniert ist, hat sich auf dem Hof das alte Raspe-Werksgebäude am Gleis der Industriebahn erhalten.
Gebäude des Wachbataillons und der Motorradeskorte MfS-Hauptabteilung Personenschutz, Waffenkammer und Munitionsbunker, Hof der Askania-Werke, Mai 2023
Die Nordseite des Gebäudes ist noch von der Werksmauer umgeben und die Einfahrt heute zugewachsen. Der Gleisanschluss samt Prellbock aus den 1940er Jahren ist ebenso erhalten wie der 1970 vom Ministerium für Staatsicherheit errichtete Postenturm auf der alten Werksmauer. Selbst ein Teil der Signaldrahtanlage aus den 1970ern steht noch komplett erhalten auf ihr.
Eingangstür zum Treppenhaus Neumagener Straße 33, Zugang zur Waffenkamner und Munitionsbunker im Keller sowie in beide Obergeschosse, Mai 2023
Eine unscheinbare Stahltür hinter Büschen war der einstige Werkseingang, dahinter befindet sich das Treppenhaus, heute der unscheinbarste Teil des Objekts, aber auch der am besten erhaltene.
Einziger Treppenaufgang des Hauses. Haupteingang Neumagener Straße 33, verbindet Keller und Obergeschosse, Mai 2023
Vom Hof der ehemaligen Askania-Werke aus gibt es eine Zufahrt für die Motorradeskorte in die im Keller gelegene Kraftradhalle. Ein paar Meter weiter an der Rückseite befindet sich der gesonderte Personenzugang der Eskorte und dahinter der Durchgang zum Schießstand, genauer gesagt zur Raumschießanlage, dem sogenannten Tunnel.
Ulbricht, Grotewohl und Chruschtschow auf der Protokollstrecke Ossietzkystraße zum Schloss Niederschönhausen, geschützt von vom Ministerium für Staatsicherheit Hauptabteilung Personenschutz, Motorradeskorte, Mai 1960
Von hier aus wollen wir unseren kleinen Rundgang durch die vergessene Waffenkammer und den Munitionsbunker starten. Als erstes geht es etwa zwei Meter die Treppen nach unten zur noch eingerichteten Umkleidekammer. Der Zahn der Zeit und das ständig eindringende Grundwasser haben die Holzeinbauten zusammenfallen lassen.
Umkleideschränke, Zugang zum Tunnel, Mai 2023
Das Tor der Eskorte, von hier aus geht es zum Tunnel der Raumschießanlage. Die meisten Einbauten wurden schon entfernt, der Verwendungszweck als Schießstand ist aber noch gut zu erkennen. Auf dem Boden liegen einige verkohlte Brandreste. Am Ende des Tunnels befindet sich eine Schleusentür zur Waffenkammer.
Eingang Motoradeskorte, Mai 2023
Im gesamten Keller riecht es modrig, kalt zieht es durch die Schleusentür als ich die Waffenkammer betrete. Unglaublich, die Waffenschränke, Tresore und Regale stehen alle noch an Ort und Stelle. Hier ist die Zeit vor 30 Jahren stehen geblieben, genauer gesagt am 23. Juni 1990. Zwanzig Vertreter des Runden Tisches Weißensee, darunter der Ingenieur Gert Schilling, später Bürgermeister von Weißensee, forderten Einlass in das Objekt des Ministerium für Staatssicherheit.
Tür zum Tunnel, Mai 2023
Der wurde Ihnen auch gewährt, was sie fanden, war unglaublich. Mitten im Wohngebiet stießen sie auf acht Waffenkammern und einen Munitionsbunker. Eine der Waffenkammern sowie der Munitionsbunker sind bis heute hier im alten Teil des Raspe-Werks erhalten geblieben.
Blick in den Tunnel von der Umkleide, Blickrichtung Waffenkammer und Munitionsbunker, Mai 2023
Die rauen Mengen an Waffen und Munition waren schier unglaublich.
4000 Handgranaten
145 Panzerfäuste
1089 Gewehre
35 Scharfschützengewehre mit Zielfernrohr
15 Maschinenpistolen
1335 Pistolen
Tunnel mit leichten Schallschutzeinbauten, Verwendungszweck nicht bekannt, Mai 2023
Die Zahl der Mitarbeiter des Wachbataillons Abt. Objektschutz wird auf 300 bis 800 geschätzt, die Eskorte soll bis zu 40 Mitarbeiter gehabt haben. Die Waffenkammern und der Bunker wurden unter Aufsicht eines Bürgerrates 1990 abtransportiert.
Waffenkammer mit Fahrstuhlzugang im Keller, Mai 2023
In das Hauptgebäude an der Berliner Allee Ecke Liebermannstraße zogen 1990 das Bezirksamt und das Finanzamt ein. Das kleine Werksgebäude Neumagener Straße samt Waffenkammer und Munitionsbunker fiel in den Dornröschenschlaf. Hier stehen sie bis heute und rosten vor sich hin. Schwere Tresore und Waffenschränke. In mehreren Räumen befinden sich Schwerlastregale für Waffen und Zubehör.
Einer von mehreren Waffentresoren, Mai 2023
Waffentresor, Mai 2023
Waffenschrank im Nebenraum, Mai 2023
Schwerlastregale in der Waffenkammer, Mai 2023
Eine schwere Gittertür fällt sofort auf. Dahinter befindet sich ein kleiner Flur mit mehreren Kammern, die mit Schleusentüren versehen sind. Es handelt sich um den Munitionsbunker. Hier lagen zeitweise bis zu 4000 Granaten.
Munitionsbunker, Mai 2023
Lagerzellen im Munitionsbunker mit Schutztüren, Mai 2023
Der Zugang zum Treppenhaus ist in Sichtweite. Dem Treppenhaus vorgelagert sind Mannschaftshygieneräume mit Toiletten und Waschhalle. Der gute Erhalt erklärt sich wohl aus der schlechten Nutzbarkeit wegen eindringendem Grundwasser und dem Denkmalschutz der Raspe-Werke.
Hygieneräume im Keller an der Waffenkammer, Mai 2023
Der Kraftradhalle ist noch ein Raum vorgelagert. Ich traue meinen Augen kaum, als ich über die Steuerunterlagen mehrerer Tausend Berliner stolpere. Ganz unbekannt ist mir der Anblick nicht. Bereits 1998 hatte ich als Jugendlicher Akten aus den verwaisten Werksgebäuden an der Liebermannstraße gesichert. Aber nach über 30 Jahren noch Steuererklärungen vom damals hier ansässigen Finanzamt zu finden, war eine Überraschung.
Berliner Steuerunterlagen 1980 bis 1989 im Keller der Eskorte, Mai 2023
Es handelt sich um Steuererklärungen aus allen Bereichen aus den Jahren 1980 bis 1989 Berlin-Ost. Wahrscheinlich hat das Finanzamt in der ehemaligen Kraftradhalle der Eskorte Aktenbestände vor Ihrer Vernichtung gelagert. Warum diese hier einen Raum weiter liegen blieben, ist nicht bekannt.
Aktenbestand diverser verschiedener Steuerunterlagen, gewerblich und privat Berlin-Ost 1980 bis 1989, Mai 2023
Die Kraftradhalle ist in einem guten Zustand und wird als Hausmeisterwerkstatt für das ehemalige Askania-Werk genutzt. Hier haben heute viele Künstler ihre Räumlichkeiten.
Motorradhalle der Eskorte mit Kellerrampe und Abgasentrauchung, Mai 2023
Von den Einbauten der Kraftradhalle ist heute noch die Abgasentrauchungsanlage erhalten geblieben. Ebenerdig sollte sie die Abgase der ein- oder ausfahrenden Motorradeskorte absaugen, um Vergiftungen zu verhindern.
Abgasentrauchungsanlage Motorradhalle der Eskorte, Mai 2023
Die Kraftradhalle hat eine eigene Kellereinfahrt für die Motorradeskorte, durch diese verlasse ich das alte Raspe-Werk wieder auf den Hof der ehemaligen Askania-Werke.
Einfahrt in die Kraftradhalle der Eskorte, Zufahrt Hof Askania-Werk, Mai 2023
Das Gebäude ist nicht öffentlich zugänglich und gut gesichert. Bleibt zu hoffen, dass diese gruselige Zeitkapsel noch lange erhalten bleibt.
Link: 360° interaktives Panorama: MfS Postenturm, Raspe-Werk, Askania-Werk, Kugellager- und Werkzeugefabrik Riebe, Opta Radio-Werke, Nils-werke, VEB Sternradio Weißensee, Mai 2023
Informationen zu Hans und Carl Otto Raspe Apperatewek Weißensee Rüstungskredit:
Wir befinden uns in der Neumagener Straße 33, zwischen dem alten Askania-Werk und dem Gebäude vom VEB Stern-Radio Berlin. Zwischen den zwei großen, altehrwürdigen und bekannten roten Backstein-Werken befindet sich ein Verladegebäude mit Gleisanschluss zu einer Seite und LKW-Laderampe zur anderen.
MfS-Postenturm Hauptabteilung Personenschutz, Neumagener Straße, Mai 2023
Ein unscheinbares altes Wellblechtor, vor dem sich von Moos überwachsene Betonplatten und Gleisreste befinden, ist der Eingang zu einem ganz besonderen Lost Place. Hinter dem Tor befindet sich ein alter MfS-Postenturm.
Gesamtanlage MfS-Hauptabteilung Personenschutz. Bildmitte Quartier Motorradeskorte, Wachbataillon u. Waffenkammer, Mai 2023
Im Sommer durch die üppige Vegetation kaum zu sehen, bietet sich dem Betrachter im Winter ein ganz anderer Anblick. Glaubt der Laie doch, hier vor einem Grenzwachturm der DDR zu stehen. In Weißensee?
Toreinfahrt Güterverladegleis der Industriebahn, Neumagener Straße, Mai 2023
Weit gefehlt! Der Wachturm vom Typ BT6 wurde nicht nur zur Grenzsicherung eingesetzt. Er war viel mehr der Standardbausatz seiner Zeit und sollte ab 1969 die Holzwachtürme ersetzen. Die Grenzwachtürme sind in Erinnerung geblieben und so werden sie oft sofort mit der innerdeutschen Staatsgrenze in Verbindung gebracht. Beim Typ BT6 handelt es sich noch um eine der ersten Varianten eines Wachturms. Der Turm bestand aus Betonringen und einem Aufsatz, der je nach Größe des Ausgucks um mehrere Betonwaben erweitert werden konnte.
Wachturm BT6, Bj.1970, Neumagener Straße, Mai 2023
Zum Vergleich, der fast gleiche Typ, wie er am Stasigefängnis Hohenschönhausen zu finden ist, hat größere Betonringe, davon noch mehr, um Höhe zu gewinnen und auch die Turmkuppel hat mehr Seitenwaben und ist somit um einiges größer. Der Postenturm Neumagener Straße ist denkmalgeschützt und Baujahr 1970. Wie kommt der Turm aufs Werksgelände und was bewachte der Posten?
Eingang zum Wachturm, Mai 2023
Der Turm überwacht die alte Güterverladehalle und den Werkshof der ehemaligen Askania-Werke. Das Askaniahaus und die Erweiterung, Berliner Allee, Ecke Liebermannstraße wurden 1939 auf Geheiß der Luftfahrtindustrie gebaut. Mit der Eroberung Berlins durch die Siegermächte wurde das Askania-Werk von den Sowjets beschlagnahmt. Ab 1953 zog das Ministerium für Staatssicherheit mit der Hauptabteilung für Personenschutz in das Objekt ein. Umliegende Gebäude wurden teilweise von der Polizei genutzt.
Schießscharten in der Turmkuppel, Wachturm BT6, Bj.1970, Mai 2023
Die Hauptabteilung Personenschutz hatte bis zu 3800 Mitarbeiter. Ihr Aufgabenbereich lag im Schutz der Staatsführung, ihrer Gäste und der Absicherung von Auslandsaufenthalten der Regierungsangehörigen. Das Gelände im Norden von Weißensee hatte nicht nur die benötigte Größe, es lag auch noch günstig für Einsatzkräfte auf der Protokollstrecke nach Wandlitz.
Protokollstrecke Ossietzkystraße, Ulbricht und Grotewohl mit Staatsgast Chruschtschow, 19. Mai 1960
Im Gebäudekeller befand sich die bis heute erhaltene Waffenkammer und die Eskorte, gleich darüber saß das Wachbataillon. Das Gelände muss in den 1980er Jahren einer Festung geglichen haben. Nicht nur der Postenturm weckt Erinnerungen an die Berliner Mauer.
Gleis mit Prellbock alte Industriebahn, Mai 2023
Beim genauen Hinschauen ist eine einzelne Leitersprosse auf der Mauer zu erkennen. Unglaublich, es ist die baugleiche Signaldraht-Meldeanlage wie auf der innerdeutschen Staatsgrenze. Die Drähte sind weg aber der komplette technische Aufbau ist original erhalten.
Sperranlage, Signaldrähte auf Leiter, Mai 2023
Während der Hof zwischen den ehemaligen Askania-Werken und der Güterhalle jetzt eine Künstlerstadt beherbergt, erinnert außer einer großen DDR-Wagenhalle an der Einfahrt Neumagener Straße nichts mehr an den Hochsicherheitsbereich des MfS. Anders verhält es sich hinter dem Güterschuppen auf der Bahnsteigseite,hier haben viele bauliche Zeitzeugen die Zeit überdauert. Angefangen vom Postenturm, über das Verladegleis bis hin zur Signal-Meldeanlage haben sich hier sicher noch mehr Fundstücke erhalten.
Wachturm BT6, Stasigefängnis Hohenschönhausen, Mai 2023
Das Gelände ist öffentlich nicht zugänglich und wer einen Blick auf den Turm werfen möchte, tut das am besten im Winter, dann ist er von der Neumagener Straße aus zu sehen. In weitaus besseren Zustand sind die Wachtürme am Stasigefängnis Hohenschönhausen. Wer sich für die Thematik interessiert, kann hier eine Führung buchen.
Nächsten Samstag nehmen wir Euch mit in die MfS Waffenkammer Weißensee. Trau Dich. Abonniere uns. Keine Newsletter, kein Spam!
Heute möchte ich den alten Güterbahnhof Schönholz vorstellen. Das Planungsverfahren für den neuen ICE-Parkplatz soll bis 2025 abgeschlossen sein. Anlass genug, das interessante Waldstück entlang der Straße am Bürgerpark noch einmal zu dokumentieren und der Öffentlichkeit vorzustellen. Das Areal beziehungsweise ein kleines Anschlussgrundstück an der Einfahrt zum Bahnhof machte bereits im Februar 2018 weltweit Schlagzeilen. Hier stehen die Reste der denkmalgeschützten Berliner „Ur-Mauer“.
Luftaufnahme Güter- und S-Bahnhof Schönholz Blickrichtung West-Berlin, Mai 2023
Nordöstlich vom eigentlichen Bahnhof Schönholz liegt der Güterbahnhof Schönholz. Wir beginnen mit der Eröffnung am 10. Juli 1877 als Bahnhof Reinickendorf. Der Bahnhof liegt noch ebenerdig zum Umland und hat nur einen Außenbahnsteig. 1878 erfolgt die erste Umbenennung in Schönholz (Reinickendorf).
Bahnhof Berlin Schönholz ca. 1961S-Bhf Schönholz, Mai 2023
Ab 1. Mai 1911 trägt der Bahnhof den Doppelnamen Schönholz-Reinickendorf. Schon 1893 wird der Außenbahnsteig zum Mittelbahnsteig und die Kremmener Bahn wird angeschlossen. Jetzt ist Schönholz-Reinickendorf ein Umsteigebahnhof und bekommt 1896 ein Empfangsgebäude.
Luftaufnahme Straße am Bürgerpark, Blickrichtung von der Jugendverkehrsschule Schützenstraße zum Kinderbauernhof Pinke Panke,Mai 2023
Nur fünf Jahre später wird das Empfangsgebäude schon wieder abgerissen. Die komplette Strecke wird von 1901 bis 1903 auf den heutigen Bahndamm gebaut und der Bahnhof so wie wir Ihn heute kennen errichtet. Zwei Ferngleispaare wurden gelegt, die Gleise der Kremmener Bahn umgesetzt und vom Bahnhof Schönholz-Reinickendorf getrennt. Am 5. Juli 1925 fuhren die ersten elektrischen Bahnen auf der Trasse. Dadurch wurde Schönholz-Reinickendorf zum S-Bahnhof.
Historische Einfahrt zum alten Güter- und Verladebahnhof Schönholz in der Schützen-/ Ecke Buddestraße, Haus 1, Mai 2023
Der Mischbetrieb von S-Bahn und Dampflok wird 1927 zugunsten der S-Bahn eingestellt, das Aus für den Dampflokomotivenbetrieb am Personenbahnhof Schönholz. Das endgültige Aus für den Lokomotivbetrieb in Schönholz war aber erst in den 1960er Jahren. Aber selbst hiervon sind für den kundigen Beobachter noch Spuren zu finden. Der separate Versorgungsbahnsteig für die Dampflok nebst Unterstand ist noch erhalten.
Wiege- und Zahlhaus mit Bodenwaage für Lastkutschen, Haus 1, Mai 2023
Im Jahr 1938 bekommt der Bahnhof seinen heutigen Namen Berlin-Schönholz. In den 1940er Jahren herrscht Hochbetrieb auf dem Güterbahnhof. Kriegsgüter und Zwangsarbeiter beherschen das Geschehen. Das Lunalager im ehemaligen Vergnügungspark Schönholzer Heide, in dem Zwangsarbeiterinnen aus Osteuropa untergebracht waren ist nur wenige hundert Meter enfernt in Sichtweite.
Mechanisches Wiege- und Zahlhäuschen mit Bodenwaage für Lastkutschen, Haus 1,Mai 2023
Durch die verherenden Luftangriffe auf Berlin ruht der Bahnverkehr erstmals 1945. Der Bahnhof ging jetzt an die Siegermächte. Und diente vor allem den Sowjets als Verladebahnhof für Materielle Kriegsreparationen. Das hieß, die Sowjets demontierten die Maschinenparks im Norden von Pankow und Reinickendorf, in denen zuvor die Zwangsarbeiterinnen Kriegsgüter fertigten.
Luftaufnahme Güterbahnhof Schönholz 1928
In der Schönholzer Heide wurden die Beschlagnahmungen zwischengelagert und dann über den Güterbahnhof Schönholz in die damalige Sowjetunion verbracht. Als Unterkunft nutzten die Sowjets noch einige Zeit die Reste des Zwangsarbeiterlagers.
Wiege- und Zahlhäuschen für Lastkutschwagen, Haus 1, Mai 2023
Ableseeinheit der Bodenwaage für Lastkutschen im Wiege- und Zählhaus, Haus 1, Mai 2023
Am 13. August 1961 war schlagartig Schluss mit der Ruhe. Bewaffnete Organe der Nationalen Volksarme und Unterstützerkräfte errichteten eilig eine Personen- und Fahrzeugsperranlage mit Kontrollpunkten auf der Grenze zwischen Reinickendorf und Pankow. Die Stunde der Berliner Mauer hatte geschlagen. Damals noch eine Behelfsanlage aus allem was da war. Später wurde die ursprüngliche und uneinheitlich gebaute Berliner Mauer durch die heute noch bekannten weißen „L-Teile“ aus Beton ersetzt.
leerer Panzerschrank um 1900 im Wiege- und Zahlhäuschen, Haus 1, Mai 2023
Hierbei gab es an der Einfahrt zum Güterbahnhof eine Besonderheit. Die erste Berliner Mauer wurde noch genau auf der damaligen Bezirksgrenze errichtet. Die DDR-Regierung ersetzte die Behelfsgrenzanlage mit den Weißen „L-Teilen“ aus Beton. Die Mauer sollte nicht nur ihres schäbigen Aussehens wegen ersetzt werden sondern auch, um Republikflüchtlinge vor dem weiß angestrichenen Betonhintergrund besser erkennen zu können.
Autor Bormann im Magazin der Pankower Chronik mit einem Kutschwagenheber um 1900, Mai 2023
In der Schützenstraße, an der Einfahrt zum Güterbahnhof, kam es zu einer Abweichung. Die Bezirksgrenze bildete hier eine so spitze Flucht, dass man sich dazu entschied, die weißen „L-Teile“ auf der Einfahrt zum Güterbahnhof vorzuziehen. Das machte den Grenzverlauf sicherer, da der Abschnitt jetzt mit weniger Personal und Technik noch besser überwacht werden konnte.
Blick unter die Lastkutschenwaage am Wiege- und Zahlhäuschen, Mai 2023
Während die ursprüngliche erste Berliner Grenzmauer verschwand und ersetzt wurde, blieb sie in Schönholz mitsamt ihrer technischen Erstaufbauten, wie Menschenfang und Meldedraht bis heute stehen. Für den Abriss Ressourcen einzusetzen, die im Aufbau Ost knapp waren, bestand kein Anlass, denn die schäbige „Ur-Mauer“ war ja hinter der neu errichteten Grenzanlage nicht zu sehen.
Autor Bormann auf der Berliner Mauer aus der ersten Bauphase, sogenannte Berliner „Ur-Mauer“, Februar 2018
Luftaufnahme Berliner Mauer, „Ur-Mauer“ Schönholz, Januar 2018
Auch beim Abriss der Berliner Mauer, den ich als direkter Anwohner in meiner Kindheit miterleben durfte, gab es niemanden, der die alte Grenzanlage erkannte. Warum auch? Die DDR hatte das kleine Dreieck Pankow in den 80er Jahren an die BRD verkauft. Es lag eh seit Jahren ungenutzt hinter der Mauer. Die DDR brauchte Devisen und die BRD kaufte aus Prinzip jeden Quadratmeter DDR.
Kartenausschnitt Bahnanlage Strom- und Güterbahnhof Schönholz, Stadtbezirkskarte Berlin Pankow stand 1928
Zum Zeitpunkt des Mauerabrisses gab es also keinen Grund, auf Westberliner Territorium eine zweite Berliner Mauer, also eine „Ur-Mauer“ zu suchen. Um so größer war die weltweite Überraschung und das darauf schnellste Denkmalschutzverfahren, das mir in Deutschland bekannt ist. Heute ist die Berliner „Ur-Mauer“ akut bedroht und wartet darauf, aus Ihrem Dornröschenschlaf geweckt zu werden.
Linker Prellbock, endet an der Jugend- Verkehrschule Schützenstraße
Als Güterbahnhof Schönholz kennen viele heute den Güterschuppen oben auf dem Bahndamm. Tatsächlich ist dieser aber nur ein kleiner Teil der Gesamtanlage. Ebenerdig entlang der Straße am Bürgerpark und der Schützenstraße verläuft ein fast rechteckiges Waldstück. Im Vorbeifahren kann man noch schemenhaft von Bäumen überwachsene Gleise und Prellböcke durch die dichte Vegetation erkennen.
Gut erhaltene Prellböcke am Ende der Gleisanlagen, Mai 2023
Mit dem Mauerbau blieb auch hier die Zeit stehen. Die Nordgleisanlage verlief in 2 Meter Abstand zur Berliner Mauer. Heute noch gut durch den nachgepflasterten Mauerverlauf zu erkennen. Für den unteren Güterbahnhof war es das Aus, wie die inzwischen gut 50 bis 60 Jahre alten Bäume auf den Gleistrassen zeigen. Es sind gar keine Trassen mehr sichtbar, sondern Waldboden, in dem die Gleisanlage noch erhalten ist.
Nordostgleise parallel zur Straße am Bürgerpark, Mai 2023
Zur Gleisanlage gehören heute noch drei Gebäude, wobei vom Hauptbau nur noch ein geklinkerter roter Pfeiler und die Reste der Fundamentstreifen übrig sind, einige Aussenwände und Pfeiler liegen noch so, wie sie vor Jahrzehnten umgefallen sind. Ende der 1990er Jahre war hier noch mehr zu sehen. Der Panzerschrank im kleinen Wiege- und Zahlhaus stand damals noch. Ich glaube mich zu erinnern, dass die Tür schon fehlte. Er ist von einfacher Bauart und die Wände mit Beton ausgegossen. Wohl auch der Grund, dass er nach Jahrzehnten unter freiem Himmel immer noch liegt, wo er 1877 abgestellt wurde. Neben der Kutschwagenwaage ragte damals ein etwa vier Zentimeter langes Rohrstück aus dem Boden.
Links im Bild, gemauerter roter Backsteinpfeiler. Das einzige was vom großen Haus 2 noch steht, Mai 2023
Vorsichtig zog ich daran, doch es bewegte sich kein Stück. Ich wollte das Grundstück damals nur in Augenschein nehmen, also hatte ich nicht mehr als meine Hände. Die Neugier war geweckt und so fing ich an, das Rohrstück von Erde freizukratzen. Schnell entpuppte sich das kleine runde Rohrstück als Teil einer Kurbel und es sollte noch mehr dran hängen. Nach einer halben Stunde hatte ich keine Fingernägel mehr, aber einen gut 50 Kilo schweren Wagenheber um 1900 in der Hand. Ein schönes historisches Fundstück. Liegen lassen kam nicht in Frage, also kam der Wagenheber ins Magazin wo er bis heute darauf gewartet hat, dass seine Geschichte erzählt wird.
Die Reste von Haus 2. Bis 2014 standen noch einige Außenmauern des Gebäudes, Mai 2023
Einige Meter die Gleise entlang Richtung Kinderbauerhof verbirgt sich noch ein spektakuläres Geheimnis. Hier liegt der Eingang beziehungsweise von Osten kommend der Ausgang des ersten Berliner Fluchtunnels. Eine Liebesgeschichte wie aus dem Buch. Waltraut Niebank und ihr gerade geehlichter Mann werden durch den Mauerbau getrennt. Er gräbt sich vom Güterbahnhof unter der Straße durch und legt einen Fluchtunnel für seine geliebte Frau an. Am 18 Dezember 1961 flüchtet Frau Niebank vom gegenüberliegenden Friedhof am Bürgerpark. Der Tunnel bleibt tagelang unbemerkt. Dutzende, so erzählen es Zeitzeugen, sollen den Tunnel noch Stunden später benutzt haben. Die Grenztruppen bekamen Wind vom Fluchttunnel und stellten den nächsten vermeintlichen Republikflüchtlingen eine Falle die dann auch zuschnappte.
Unterkunft für Stellwerkschlosser, Haus 3, Mai 2023
Den Bahndamm hinauf steht noch ein kleines Schmuckhäuschen. Die Unterkunft für Stellwerkschlosser. Da der Damm erst 1901 gebaut wurde, um den neuen Bahnhof darauf zu setzen, müsste auch die Unterkunft für Stellwerkschlosser auf 1901 bis 1903 zurück gehen. Trotz mehrerer Brandstiftungen ist das Haus in einem bemerkenswerten Zustand und schnell wieder herzurichten.
Reste der Unterkunft für Stellwerkschlosser Haus 3 nach mehreren Brandstiftungen, Mai 2023
Das edle kleine Häuschen liegt mit dem Rücken zum Hang und der alten Anlage. Die Front hingegen verläuft parallel zum breiten Pflasterweg der von der Einfahrt Schützenstraße lang ansteigend den Damm bis zum Güterlockschuppen hinaufgeht. Die Ruine empfängt heute jeden, der vor dem Lokschuppen den alten Pflasterweg hinauf kommt.
Denkmalgeschützter Güterschuppen, Haus 4, Mai 2023
Der altehrwürdige Güterschuppen ist für viele das Einzige was sie als Güterbahnhof Schönholz kennen. Das Gesicht des Güterbahnhofs ist er ohne Frage, aber eben nur ein kleiner Teil der noch erhaltenen Anlage. Die Feuerwehr kann ein Lied davon singen, zahlreiche Kleinfeuer löschten sie die letzten zehn Jahre. Heute ist das Gebäude versiegelt. Fast zu spät, aber auch im Güterschuppen haben sich Originale Ihrer Zeit erhalten und die Wiederherstellung der denkmalgeschützen Halle wäre schnell und günstig zu bewerkstelligen.
Luftaufnahme Güterschuppen Schönholz, Haus 4, Mai 2023
Doppelseitige Stahlschiebetüren mit Wellblech abgeblendet sind wohl noch original aus der Zeit. Was die Fenster anbelangt, so gibt es hier nicht eine einzige heile Scheibe. Es gibt gar kein Glas mehr. Auf dem inzwischen fast als historisch zu bezeichnendem Bild von 1998 hingegen sind die Fenstergläser fast alle intakt. Im Inneren haben Obdachlose lange genächtigt, das zeigen die verbliebenen Spuren, aber auch Kabeldiebe konnten hier scheinbar in Ruhe arbeiten.
Güterschuppen Verladeseite nordost für Kutschen und später Lastkraftwagen, Mai 2023
Abgesehen vom vielen Müll, der in das Gebäude eingetragen wurde ist das Innere immer noch sehenswert. Es ist nahezu im Originalzustand was die Großeinbauten jener Zeit anbelangt. Da wäre zum Ersten der verschließbare Gütergepäckkäfig als Holzaufbau, scheinbar haben einige Halbstarke desöfteren dagegen getreten, um ihn zu Fall zu bringen, so dass er heute etwas schräg da steht. Ihm gegenüber steht der nächste Holzaufbau, hier standen vermutlich Schiebewagen oder Stapelsäcke.
Bahnsteigseite Güterschuppen, links 1998, rechts Mai 2023
Bei meiner Begehung des Güterschuppens 2014 war ich mit Nadine Kreimeier unterwegs, damals fanden wir einen originalen Umladeschein von 1890 mit der Aufschrift: „Von Schönholz-Reinickendorf nach Rummelsburg. Auch die Begehung im Mai 2023 brachte eine Überraschung zutage. Im Zahlschalterraum stieß ich auf zwei verschlossene Tresortüren. Kaum zu glauben, dass noch niemand sie aufgebrochen hat. ich habe mich auch gefragt, warum ich sie nicht schon viel früher gesehen habe.
Zahlschalterraum im Güterschuppen mit zwei verschlossenen Tresorfächern, Haus 4, Mai 2023
Ich wollte es erst nicht richtig glauben und vermutete, dass es sich um Revisionsklappen oder eine ähnliche technische Einrichtung handelt. Aber nein. Es waren Panzertüren mit Tresorschloss. Zu gern wüsste ich, wie es im Inneren aussieht. Ich vermute aber, dass beide Fächer leer sind und die Schlüssel einfach bei der Übergabe des S-Bahnhofs verloren gingen.
Eingang mit Schreibstube und Personalbereich im Güterschuppen, Haus 4, Mai 2023
Am 9. Januar 1984 übernahm die BVG den Personenverkehr am Bahnhof Schönholz von der Reichsbahn und stellte den Betrieb ein. Wenig später, am 1. Oktober 1984 ging er als S-Bhf Schönholz unter Leitung der BVG wieder ans Netz. Wobei der Güterbahnhof weiterhin der Reichsbahn unterstand. Die Tresorfächer waren spannend, aber aus historischer Sicht zu vernachlässigen. Im Denkmalkontext spannender ist der hintere Teil der Güterhalle.
Zahlschalterraum im Güterschuppen, Haus 4, Mai 2023
Hier haben sich bis heute die zwei Güterwaagen erhalten. Mannsgroß sind ihre Anzeigespiegel. Die Waagen sind so massiv, dass sie bis heute allen Zerstörungsversuchen getrotzt haben.
Im Inneren der Verladehalle, Haus 4, Mai 2023
Der Gesamteindruck der Halle ist auf den ersten Blick erschreckend. Das Dach ist marode und auf einer Fläche von knapp 20 Quadratmetern eingstürzt. Auf den zweiten Blick jedoch wird klar, dass die Schäden schnell zu beheben sind und es sich viel mehr um eine Vermüllung und kleinere Brandschäden handelt.
Güter- und Gepäckwaagen im Güterschuppen, Haus 4, Mai 2023
Es bleibt abzuwarten, was der geplante ICE-Parkplatz an Chancen oder Gefahren für den alten Güterbahnhof und die Reste der ersten Berliner Mauer bedeutet. Pankow hat hier ein einzigartiges Areal Berliner, deutscher und europäischer Geschichte auf engstem Raum.
Ladeschein um 1915, Fundstück im Balkenwerk des Güterschuppens 2014
Berliner Geschichte wird hier ab 1770 zu deutscher Geschichte und mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu Europäischer. Krieg, Frieden, Vergnügen, Tod, Trauer, Teilung und Wiedervereinigung sind hier als bauliche Zeitzeugen in Schönholz erhalten geblieben, wie nirgends anders in Berlin.
Noch vorhandene Originaleinbauten im Güterschuppen, Mai 2023
Den Bahndamm über den Pflasterweg wieder hinunter zum Tor kommen wir noch einmal linksseitig an der Personalunterkunft vorbei. Wer den Damm vom Pflasterweg hinabschaut, wird ein riesiges Betonbecken mit Wasser erkennen. Es gehört zur Pumpstation und ist nur eines von mehreren.
Kleiner Bahnsteig der Wassertankstelle für die Dampflokomotiven ,Gleis am Güterschuppen, Mai 2023
Pflasterweg vom Güterschuppen zum Ein- und Ausgangstor Schützenstraßetraße, Mai 2023
Die Pumpstation gibt es nicht mehr, einige Teilstücke der Berliner „Urmauer“ parallel zum Bahndamm sind Aussenwände dieser, wenn ich die Luftaufnahmen richtig deute. Zwischen Buddestraße und Bahndamm liegen noch die Reste der Wasserbecken.
Vermutete Personalunterkunft Güterbahnhof Schönholz, Haus 3, Mai 2023
Von einem Besuch des Güterbahnhof Schönholz auf eigene Faust ist abzuraten. Die Firma Siemens und andere arbeiten inzwischen täglich vor Ort, darüber hinaus steht hier relevante Infrastrukturtechnik, die gut überwacht ist. Wer hier spazieren geht, bekommt umgehend behördliche Begleitung.
Letztes erhaltenes Wasserbecken der Pumpstation, Mai 2023
Inzwischen ist der kleine Wald nicht nur historisch interessant, auch allerlei Tierarten haben sich das Biotop erobert. Kleiner Wermutstropfen, es ist davon auszugehen das das Erdreich immer noch kontaminiert ist.
Im Juli 2021 haben wir in einem Beitrag einen Blick auf das „Haus Horridoh„ geworfen. Es ist oft sehr mühselig, an Informationen aus der Geschichte eines solch altehrwürdigen Hauses zu gelangen. Fast zwei Drittel des amtlichen Aktenbestandes von Pankow wurden während des Vorrückens der Roten Armee 1945 auf Berlin im Innenhof des Rathauses Pankow verbrannt.
Haus Horridoh im Winter 1933, Linden Straße, heute Grabbeallee
Umso größer war die Freude, als sich Simone Kehrer meldete. Vorfahren von ihr lebten von 1931 bis 1934 im „Haus Horridoh“. Wir verabredeten uns und ich durfte einen Blick in die alten Fotoalben der Familie werfen. Hier spiegelte sich nicht nur die Geschichte der Familie, sondern auch Bezirksgeschichte wider. Die Urgroßeltern von Frau Kehrer, Alfred Bünsow (1884-1937), Schilderfabrikbesitzer, und seine Frau Anna Alma Bünsow, geb. Pflugradt (1884-1976), lebten drei Jahre mit ihren Kindern im „Haus Horridoh“.
Alfred Bünsow in seiner Ordenstracht als Pankgraf, wohl in jüngeren Jahren
Alfred Bünsow war gestandener Pankgraf, hiervon zeugen noch zahlreiche Bilder. Sie zeigen ihn mit seinen Ordensbrüdern auf Ausflügen und bei Besuchen von Biergärten, stets in voller Ordenstracht. Überraschend für mich war das Foto, auf dem Anna Alma Bünsow sich vor einer Mauer des Anwesens in weiblicher Ordenstracht zeigt.
Anna Alma Bünsow, geb. Pflugradt, in Ordenstracht der Pankgrafenschaft am Haus Horridoh, um 1933
Von der damaligen Linden Straße 33, heute Grabbeallee, hatte es Alfred Bünsow nicht weit bis zum Stammlokal seiner Ordensbrüder. Das Restaurant „Zum Pankgrafen“ lag direkt in der heutigen Ossietzkystraße auf Höhe der Panke. Hier hatte das Lokal neben Sitzplätzen für mehrere Tausend Gäste auch eine angeschlossene Panke-Badeanstalt. Die Pankebäder wurde in den 1920er Jahren wegen zu starker industrieller Verschmutzung der Panke alle geschlossen und das Restaurant nebst Biergarten fiel den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs zum Opfer.
Dackel des Hauses
Wir bleiben zeitlich Anfang der 1930er Jahre im „Haus Horridoh“. Die Bilder zeigen den Alltag, wie er auch anderen Ortes sein könnte. Der Dackel hütet das Haus. Es werden Hühner gefüttert. Man genießt die Tageszeitung bei ersten Sonnenstrahlen. Aber eine Besonderheit verbirgt „Haus Horridoh“ in den 1930 er Jahren.
Hühnerfüttern morgens auf dem Hof Horridoh, 1933
Nicht nur für heutige Verhältnisse befremdlich, dürften die Affen von Alfred Bünsow wol damals schon für Aufsehen und Gerede gesorgt haben. Vermutlich brachte eine Schwester von Alfred Bünsow die Tiere mit. Sie hatte 1919 einen deutschen Konsul geheiratet, mit dem sie viele Jahre erst in Kamerun, dann an der westafrikanischen Küste lebte.
Affenkäfig in der Remise Hof Horridoh, 1933
Neben einigen Schnappschüssen der Affen im Haus und in der Remise zeigen sie auch das Pankower Leben am Wochenende. Während es sich Alfred Bünsow mit seinen Ordensbrüdern im Restaurant „Zum Pankgrafen“ gutgehen lässt, besucht Anna Alma Bünsow das nur 15 Fußminuten entfernte Traumland Schönholz, der Vergnügungspark, der nur wenige Jahre später zum Zwangsarbeiterkomplex Lunalager wird.
Der Affe spielt mit dem Staubsauger im Haus Horridoh, 1933
Die Kulissen vom Traumland Schönholz sind unverwechselbar. Damals gab es hier ein Riesenrad, die Himalayabahn, das Oberbayern, Restaurant Schloss Schönholz und vieles mehr. Es gab auch einen Pavillion, die Traumstadt Liliput, bei der sich kleinwüchsige Menschen zur Schau stellten oder gestellt wurden. Heute unvorstellbar, aber damals üblich.
Motorrad auf dem Hof Horridoh, 1933
Mittags auf dem Hof Horridoh, 1933
Lindenallee 1933, heute Grabbeallee Haus Horridoh
Terasse Haus Horridoh, 1933
Restaurant zum Pankgrafen, heutige Ossietzkystraße, 1933
1935 zog Familie Bünsow in die Parkstraße. Was aus den Affen wurde? Wer weiß? Bilder von ihnen gibt es nur aus „Haus Horridoh“. Alfred Bünsow musste jetzt nur noch einige Meter die Parkstraße entlang, in den Elisabethweg abbiegen und saß sofort im „Restaurant zum Pankgrafen“ unter seinen Ordensbrüdern. Der kurze Heimweg war bestimmt kein Zufall. Leider verstarb Alfred Bünsow schon drei Jahre nach seinem Umzug.
Vergnügunspark Traumland Schönholz, 1933
Kulisse im Traumland Schönholz, 1933
Vergnügungspark Traumland Schönholz, 1933
Dass wir heute einmal hinter die Fassade des Hauses einen kurzen Blick in die 1930er Jahre werfen konnten, verdanken wir zwei Frauen, die diese historischen Bilder aufbewahrt, gehütet, weitergegeben und mit uns geteilt haben, die Tochter von Anna Alma Bünsow, Irmgard Bünsow und deren Tochter Simone Kehrer.
Haus Horridoh und das Pflaster der Linden Straße 1933, heute Grabbeallee
Unser kleiner Einblick endet wie er begann, mit einer seltenen historischen Privataufnahme von „Haus Horridoh“. Vielen Dank an Simone für diese interessanten Aufnahmen aus dem Herzen Pankows.
In Pankow gibt es viele alte Gebäude, bei dessen Anblick dem Betrachter das Herz aufgeht und man sich unweigerlich fragt, welche Geschichte sich hinter der Fassade verbirgt.
Max Rudolph’s Borussia Park, 1901-1908
Eines dieser Objekte ist die Villa Langheinrich, später auch Villa Bollenbach, die Leichenvilla oder Villa vor Schönholz genannt. Sie steht in der Provinzstraße 23 in Pankow-Niederschönhausen.
Restauration Schaller’s „Tivoli“ mit Terrasse rechts im Bild, 1907-1914
Das Gründerzeithaus aus den 1880ern mit seinem klassischen Historismusschmuck aussen wie innen ist ein Hingucker und echtes Juwel. Der erste Besitzer soll ab 1886 Dr. Phil. Ernst Langheinrich gewesen sein. Langheinrich war Direktor der „Preußischen Lebens- und Garantie- Versicherung AG Friedrich Wilhelm“ und wohl auch dementsprechend vermögend. Ernst Langheinrich verstarb 1898 und die Villa wurde 1902 von der Terraingesellschaft Schönholz gekauft, die bis 1918 Eigentümerin blieb.
Einstige Rückseite der Villa, heute Eingang Villa vor Schönholz, November 2022
Schon aus dieser Zeit ist bekannt, dass Max Rudolph in Villa und Garten das Restaurant „Borussia Park“ von 1901 bis 1907 betrieb. Von 1907 bis 1914 betrieb dann der Gastwirt Eduart Schaller seine Gastwirtschaft „Tivoli“. Der dritte Gastwirt war G. Eggert, der seinen Schankbetrieb von 1914 bis 1918 im Hause führte. Der Ingenieur Heinrich Bollenbach erwarb 1918 die Villa vor Schönholz, Bollenbach hatte gleich in der nahegelegenen Buddestraße eine Maschinenbaufabrik.
Villa vor Schönholz, Eingang zum Untergeschoss in die Pseudokrypta, und Podest der ehem. Steintreppe, November 2022
Ab 1920 wurde die Villa von Bollenbach als Mehrfamilienhaus vermietet. Auch das Polizeirevier 291 mietete sich von 1927 bis 1934 in das Haus ein. Als Altersheim wurde es unter dem Namen „Bergpredigt“ das erste Mal von 1934 bis 1938 genutzt. Das Kommando hatte damals Oberin G. Schabel. 1938 erbte die Witwe Martha Bollenbach die Villa und vermietete sie an die Altersheimbetreiberin Martha Richter bis 1945.
Fensterschmuck Muschel mit Blütenband
Wie zahlreiche andere Objekte in Pankow wurde auch die Villa vor Schönholz zum Kriegsende 1945 von den Sowjets in Beschlag genommen. Von 1945 bis 1947 befand sich damals das Polizeirevier 283 Niederschönhausen, Revierzweigmeldestelle Schönholz im Anwesen. Bollenbach wurde dann 1949 offiziell enteignet. Die letzte Gaststätte soll H. Jahn von 1951 bis 1952 im Haus betrieben haben. Das wirklich letzte Gewerbe hatte Marta Markowski inne. Sie betrieb das „Blumenhaus Marta“ auf dem Grundstück.
Leere Kartusche mit Arkantusschmuck
Von 1955 bis 1978 gastierte wieder ein Heim in der Villa. Die DDR hatte hier das Städtische Alters- und Pflegeheim eingerichtet, bevor 1978 bis 1985 die Zentrale Feierabendheim-Verwaltung Pankow einzog. Die letzten fünf Jahre bis zum Mauerfall unterstand die Villa dem Kreisvorstand Pankow der Gesellschaft für Sport und Technik. Das Gewerbeamt übernahm ab 1990 bis zum gelegten Großbrand 1992. Schon hier begann der Untergang des altehrwürdigen Hauses nach über 100 Jahren bewegter Geschichte.
Muschel in Lorbeer gebettet
Von 1992 bis 1998 steht die Villa mit zugemauerten Fenstern im Hochparterre und abgebranntem Dach da. Ich bin 1992 kurz nach dem Feuer als Elfjähriger, angelockt von Aktenbergen im gut einzusehenden Heizhaus, auf dem Grundstück gewesen. Meine Erinnerung beginnt mit dem damals noch vor dem Haus stehenden Heizhaus. Durch eine Lücke im Zaun betrat ich damals den Garten und lief die wenigen Meter zum kleinen einstöckigen Heizhaus hinüber. Mein erster Blick fiel gleich auf den für mich damals riesig wirkenden Ofen. Aus der offenen Luke quollen nur zum Teil verbrannte Aktenordner und Mappen hervor. Ich sah mich weiter um und überall lagen kniehohe Berge von Unterlagen.
Ehemalige Haupttreppe zum Biergarten
Meine Neugier war schon von der Straße aus geweckt worden, jetzt brach das Entdeckerfieber in mir aus. Die zum Teil vermauerte Villa mit ihrem abgebrannten Dach war gespenstisch, aber sie zog mich auch magisch an. Ich lief ein paar Mal um das Gebäude, es war einfach kein Schlupfloch zu entdecken. Der Blitzableiter links vom Balkon weckte meine Aufmerksamkeit. Aus dem Garten heraus war zu sehen, dass die Balkontüren nur angelehnt waren. Es waren gute acht Meter, den Blitzableiter hoch, bis zum Balkon. Es half alles nichts, die abgesteppte Putzfassade ließ sich zusammen mit dem Blitzableiter gut als Kletterhilfe nutzen.
Bauschild von 1998, Botschaft der Republik Sambia
Das Risiko, von der Straße aus gesehen zu werden, war damals sehr hoch. Ein ordentlicher Adrenalinschub verhalf mir im Nu auf den Balkon. Ich hockte mich hin, um nicht gesehen zu werden und schob vorsichtig die Flügel der Balkontür auf. Bevor ich mich versah, stand ich in einem Dienstzimmer, in dessen Mitte sich drei aneinander geschobene Schreibtische befanden. Ich stand mitten im nur wenige Wochen zuvor abgebrannten Gewerbeamt.
Rest des mächtigen Steintreppenaufgangs in den Biergarten
Im Augenblick meines Besuches war mir nicht klar, wo ich mich befand. Die Schreibtischschubladen waren aufgerissen und überall lagen Dokumente. Ich verlies das Dienstzimmer und betrat den Hausflur, hier dämmerte es mir allmählich. Der gesamte Treppenaufgang war in voller Breite und Höhe mit Akten ausgelegt, vom Erdgeschoss bis unter das Dach, auf dem Dachboden waren sie zu kleinen Bergen aufgetürmt. An verschiedenen Stellen hatte es gebrannt und in Verbindung mit den verbrannten und unverbrannten Akten im Heizhaus war klar, dass hier Dokumente vernichtet werden sollten.
Verschliesbare Drehschränke für Aktenordner im Garten der Villa, November 2022
Vom Dachboden aus war der Himmel durch das offene Dach zu sehen und ich beschloss, mir mal den Keller anzuschauen. Vorsichtig versuchte ich den Treppenaufgang wieder hinunter zu gehen. Nicht so einfach, weil die Stufen mit kiloweise Akten überdeckt waren. So rutschte ich also mehr oder weniger den Ruß geschwärzten Treppenaufgang hinunter bis ins Erdgeschoss. Wärend das erste Obergeschoss und der Dachboden noch lichtdurchflutet waren, wurde es im Erdgeschoss duster. Durch die vermauerten Fenster drang kein Licht.
Reste der Vorlandsicherung der Berliner Mauer im Garten der Villa, November 2022
Vorsichtig tastete ich mich im Restlicht des großen Hausaufgangsfensters voran. Das Erdgeschoss war relativ uninteressant, da es nichts anderes als die erste Etage zu bieten hatte. Aber da war noch der Keller. Schon am Eingang, als ich unter dem Rundbogen zur Kellertreppe stand, war die Hand kaum noch vor Augen zu sehen. Kalte, feuchte Luft strömte die breiten Steinstufen aus dem Keller herauf, es roch furchtbar modrig.
Autor Bormann auf dem Balkon der Villa
Ich nahm all mein Mut zusammen und tastete mich an der Wand entlang die Stufen hinunter. Die Kellerfenster waren alle verhangen, nur ganz selten drang etwas Tageslicht durch einige Spalten. Ich wagte mich einige Meter in den Hauptgang des Kellers. Hier standen einige Sofas und ich erinnere mich an rote und blaue Wandzeitungen zum Wohlgefallen des sozialistischen Bruders. Der Rest des Kellers war zu dunkel, bis hier drang nicht einmal Restlicht. Ein weitergehen hätte keinen Sinn gemacht, wo nichts mehr zu sehen war gab es folglich auch nichts mehr zu entdecken. Gottseidank wusste ich nicht, dass einige Jahrzehnte zuvor hier die für den Ausbau des Todestreifens exhumierten Leichen zwei Wochen lang gelagert wurden. Laut Zeitzeugen beschwerten sich die Anwohner über den Verwesungsgeruch bis die Leichname über Nacht verschwunden waren. Es wurde vermutet das die Gebeine nachts in der Schönholzer Heide vergraben wurden.
Bekrönung der Balkontür, Kartusche umrahmt von Arkantus
Langsam tastete ich mich wieder Richtung Treppenaufgang. Der Keller war mir nicht geheuer. Mein Entdeckerhunger war fast gestillt und so wollte ich zügig wieder raus aus der Villa. Im Balkonzimmer angekommen schaute ich mir nochmal einige Ordner an. Sie begannen zum Teil in der Kaiserzeit und wurden nahtlos von den Nazionalsozialisten und später den DDR-Behörden weitergeführt. Für mich als Elfjährigen waren es wohl damals die Siegel und Stempel in den Akten die mich beeindruckten. Auf Preußische Adlerstempel folgten dann die Adler mit Hakenkreuz. So packte ich ein halbes Dutzend zusammen und betrat den Balkon wieder. An der Villa rollte der Verkehr vorbei und der ein oder andere hatte mich bestimmt schon gesehen.
Heutiger Eingang der Villa im Hausaufgang, früher auch rückwärtiger Wirtschaftseingang
Jetzt musste es schnell gehen. Vorsichtig ließ ich meine Akten an der Fassade hinunter fallen, kletterte über den damaligen Betonsims und griff nach dem Blitzableiter. Die Fassade hochzuklettern war ein Klacks, hinunter half nur die Angst vor der Polizei und den eigenen Eltern, die diese Aktion bestimmt bei Kenntnis ensprechend gewürdigt hätten. Ein beherzter Abschlusssprung in den Garten, dann schnappte ich mir die Akten und sah zu, dass ich nach Hause kam. Beim späteren Betrachten der Dokumente fiel mir so einiges auf.
Eingangsportal zum Hausaufgang
Es handelte sich um Gewerbeunterlagen, teilweise noch vor 1900 angelegt. Von dem halben Dutzend das ich mitnahm, enthielten einige Personendossiers der Staatsicherheit. So gab es da eine Akte über eine Gastwirtschaft oder Kneipe in der Brehmestraße, im hinteren Teil war diese mit einem Anhang versehen. Dem Anhang war sinngemäß zu entnehmen, dass der Wirt eine Vorliebe für junge Männer habe. Da dies im persönlichen Umfeld des Wirtes nicht bekannt war, ließen sich diese Erkenntnisse im Bedarfsfall zur Förderung einer Zusammenarbeit mit den Behörden der DDR nutzen.
Stuckarbeiten im Eingangsbereich des Treppenaufgangs
Schlagartig war mir klar, was es mit dem Feuer auf sich hatte. Die Unterlagen sollten in einer Nacht und Nebelaktion alle mit dem Haus verbrennen. Nur gut, dass die Feuerwehr zu schnell war. Man beließ den Tatort wie er war und vermauerte einfach das Erdgeschoss. So stand das ehemalige Gewerbe- oder Wirtschaftsamt dann bis 1998 als Ruine ohne Dach an der Straße vor Schönholz. Die Botschaft der Republik Sambia kaufte 1998 die Villa und sanierte sie zwar, aber zog nie ein. Seit meinem letzten Besuch im Haus sind gute dreißig Jahre vergangen. Ich fahre fast täglich an der Villa vorbei und habe den Garten und die Fassade im Blick. Mir sind in den letzten zwei Jahren schon von außen Veränderungen am Gebäude aufgefallen, die nur von innen vorgenommen worden sein konnten. Am auffälligsten waren Rollläden, die hochgezogen wurden, obwohl das Gebäude verschlossen und seit Jahren nicht betreten worden war.
Stuckarbeiten im Eingangsbereich
Für mich Grund genug, mal nach dem Rechten zu schauen. In der ersten Novemberwoche war es soweit. Durch das heute noch erhaltene Haupttor zur Provinzstraße 23 betreten wir zu zweit den Garten. Als erstes schaue ich mir die drei grauen runden Tonnen an, die seit Jahren im Garten stehen und liegen. Es sind alte Aktendrehschränke. Sie sind etwa 180 Zentimeter hoch und haben eine Schiebetür. Im Inneren ließen sich Akten auf Drehtellern verstauen. Einige Meter weiter befinden sich Reste der ehemaligen Vorlandsicherung der Berliner Mauer. Sie liegen über einer Senke und wurden über die Jahrzehnte hier vergessen.
Bekrönung des Treppenaufgang
Als nächstes schaue ich auf die Fassade. Wo heute vier Säulen auf einem Betonpodest stehen, war einst der gekrönte Haupteingang mit einer enorm ausladenden Steintreppe. Auch das Dach war gespenstisch bekrönt. Heute sind nur einige wenige leere Kartuschen und Muschelverzierungen mit Arkantusschmuck erhalten geblieben. Auf einer zeitgenößischen Postkarte von Schaller’s „Tivoli“ sind die ursprüngliche Fassade mit Treppe, rechtsseitiger Terrasse und das Dach noch zu sehen. Der Besucher trat also die Treppe hinauf, durch das Gartenzimmer gehend stand er dann am Treppenaufgang des Hauses. Wenn der Aufstieg der Gartensteintreppe dem Besucher noch nicht den Atem genommen hatte dann spätestens der Blick auf den mit Säulen gekrönten Treppenaufgang und seinen pompösen Stuckverzierungen.
Eingang zum Gartenzimmer
Auch mir raubte es den Atem. Vor dreißig Jahren war es im vermauerten Erdgeschoss so dunkel, dass der Deckenschmuck nur zu erahnen war. Die damals rußgeschwärzten Wände des Treppenhauses wurden geweisst und durch die hochgezogenen Rollläden dringt Licht in die gesamte Villa. Erst jetzt erschloss sich mir die volle einstige, auf den Besucher fast einschüchternd wirkende Pracht des gesamten Eingangsbereiches. Die steinerne Eingangstreppe vom Garten wurde im Laufe der Geschichte des Hauses abgetragen und der Außenbereich zu einem Balkon degradiert. Seither wird der ursprüngliche Wirtschaftseingang, historisch gesehen die Hintertür, als einziger Eingang benutzt.
Gartenzimmer mit Ausgang zum Gartenbalkon, ehemaliger Haupteingang, November 2022
Nachdem ich den Anblick von überbordenden Stuckelementen verdaut hatte, sah ich mich im Erdgeschoss um. Vieles war noch im Zustand meines ersten Besuches 1992. Die sanitären Einrichtungen waren saniert, kleine Büros ausgebaut und die Böden waren mit Estrich abgezogen oder man hatte das Parkett saniert. Schon im Erdgeschoss waren die Zerstörungen von Buntmetalldieben zu sehen. Die sanierten Fliesenspiegel waren großflächig eingeschlagen, um an die dahinter befindlichen paar Gramm Kupferrohre zu kommen. In den Büros waren die Rigipswände eingeschlagen und sämtliche Elektroinstallationen rausgerissen. Übriggeblieben waren nur die Reste der Gummiumantelungen der Kupferkabel.
Altes Sofa aus den 1940ern, November 2022
Ernüchtert ging ich den Treppenaufgang hinauf. Ein altes Sofa, das hier vermutlich schon seit Jahrzehnten stand begrüßte mich zerfetzt auf dem Treppenabsatz. Ich schob mich an den Sofaresten vorbei und wie ich befürchtet hatte, sah es im ersten Obergeschoss noch schlimmer aus. Bis zu 20 Personen bewohnen unbemerkt die Villa, sie haben die Büros und Aufenthaltsräume im 1. OG bezogen. Auch hier das gleiche Bild, eingeschlagene Wände und die Reste der Buntmetalldiebe. Im Unterschied zum Erdgeschoss kommen hier noch die Spuren der Bewohner hinzu. Im Haus verbliebenes Büromobiliar ist komplett zerschlagen, die Wände beschmiert und Türen eingetreten.
1992 verbrannte Hausflurmauer unter der Gasbetonwand, November 2022
Überall Schlafplätze, soweit das Auge reicht. Ich wollte mir die Südzimmer anschauen, die hatten wunderschöne Fischgrätenparkettböden als ich sie dreißig Jahre zuvor betreten hatte. Ihr wunderschönes Parkett hatten sie noch sogar aufwendig restauriert. Ich wollte es einfach nicht glauben als ich sah, dass die heimlichen Bewohner die mit Parkett ausgelegten Zimmer als Toilette benutzten. Jeder einzelne Zentimeter war mit Fäkalien überzogen. Warum das Parkett dran glauben musste und nicht der benachbarte, gekachelte Sanitärraum, erschloss sich mir nicht.
Eingang zum Balkonzimmer
Im Flur vor dem Treppenaufgang lagen die Reste mehrer Abendessen. Hier wurde bei offenem Feuer im Hausflur gegrillt. Angewidert gehe ich die Treppe zum Dachboden hinauf. Der Dachboden ist von innen noch nicht zu Ende ausgebaut. Auf der beplankten Seite sind die Dachschrägen und Wände schon fertig. Auch hier befinden sich mehrere Schlafplätze, an deren Kopfende die Wände auf etwa einem Meter Höhe kreisrund eingeschlagen wurden. Der Grund hierfür, die Löcher in den Wänden dienen zur Verrichtung des großen Geschäfts in die Wand. Unglaublich, ich hatte genug gesehen.
Balkonzimmer mit Fischgrätenparkett, und angebrannter Balkontür, November 2022
Ich lief noch einmal die Zimmer ab, um alles fotografisch festzuhalten. Im Balkonzimmer ist immer noch die angebrannte Balkontür mit ihrer zerplatzten Scheibe, hier ist das Parkett noch heil. Die Steinbalustrade, über die ich 1992 auf den Balkon kletterte, wurde durch Metallgeländer ersetzt. Durch die Löcher, die auch im Hausflur in die Gasbetonwände der Versorgungschächte geschlagen wurden, ist noch das verbrannte schwarze Mauerwerk zu sehen. Ich freute mich, dass viele der Bodenkacheln unten im Hausflur sowie in den alten Bädern noch erhalten waren.
Autor Bormann nach 30 Jahren wieder auf dem Balkon der Villa vor Schönholz
Zu guter Letzt wollte ich mir den Keller anschauen. Vor dreißig Jahren kam ich nicht weit, der schlichte Mangel an Licht beendete meine Erforschung schon im ersten Kellergang. Mehr als ein paar alte Wandzeitungen und Sofas waren damals nicht zu erkennen. Seit der Sanierung der Villa waren die Kellerfenster wieder lichtdurchlässig. Somit stand einer erneuten Erkundung nichts im Weg.
Originaler Kachelboden in dem sonst komplett zerstörten sanierten Bad, 2022
So stand ich nun als 41-jähriger wieder unter dem Rundbogen zur Kellertreppe, an dem ich mit 11 Jahren bereits stand. Und wie damals zog kalte, feuchte Luft die Steintreppe hinauf. Der alte modrige Geruch war noch genau derselbe. Ich ging die Treppe hinab und sah als erstes wieder den Hauptgang. Inzwischen war er komplett beräumt.
Mit Fäkalien verschmiertes Parkett im großen Südzimmer, 2022
Am Ende des Hauptganges bemerkte ich eine Rundbogentür, sie fiel mir sofort auf unter den anderen typischen Standardtüren. Im Keller war es so hell, dass ich nicht einmal eine Taschenlampe brauchte. Das Tageslicht schien in die kleinen Kellerfenster und verschaffte dem Ort gerade genug Licht, um alles zu erkennen. Ich schob die Tür etwas auf und dachte, mich trifft der Schlag. Damit hatte ich nicht gerechnet. Hinter der Rundbogentür befand sich eine kleine Halle im Stil einer Pseudokrypta.
Dachboden der Villa vor Schönholz, November 2022
Beim Blick auf die Gewölbedecke, die an zwölf mit Muschelkapitälen verzierten Säulen, endet ging mir fast das Herz über. Ich lief einige Schritte bis in die Mitte der kleinen Halle, drehte mich um und erspähte eine Altarnische. Spätestens jetzt war der traurige Anblick der über mir liegenden Etagen vergessen. Was mag sein Besitzer Besitzer Dr. Ernst Langheinrich hier unten getrieben haben? Gegenüber der Altarnische befindet sich ein Kellerausgang, der sicher seit der Gastwirtschaft von Max Rudolph ab 1901 als Wirtschaftszugang zur Küche diente.
Steintreppe in den Keller, November 2022
Bis auf die von mir so genannte Pseudokrypta befindet sich noch eine große Küche im Keller. Den Bodenkacheln nach zu urteilen war die Küche spätestens seit 1901 hier untergebracht und wurde als solche bis zur Schließung des letzten Alters- und Pflegeheims Schönholz genutzt. Der historische Speiseaufzug ist bis heute erhalten. Der Schacht wurde lediglich in den Ausgabezimmern verblendet.
Kellertür zum Gewölbe, November 2022
Nachdem ich Küche und Speiseaufzug dokumentiert hatte, zog es mich noch einmal in die kleine Säulenhalle. Ich schaute mir die hinterste Ecke genauer an. Hier lagen dutzende Telefone, Drucker und einige Unterlagen mit der Aufschrift „Botschaft der Republik Sambia“. Der Fund ließ den Schluss zu, dass hier wenigstens kurzzeitig Büros der Botschaft von Sambia betrieben wurden. Offiziell aber hat die Botschaft das Haus nie bezogen.
Gewölbekeller mit Säulen und Kappelennische
Genau wie dreißig Jahre zuvor zwei Etagen über mir, schnappte ich mir eine Aktenhülle für mein Archiv und verließ meine geliebte Villa vor Schönholz. Diesmal aber durch die Kellertür und nicht über den Balkon.
Eine von zehn Säulen mit Kapitel
Was sich einst als Rettung für das Haus erwies, der Kauf durch die Republik Sambia, stellt sich heute als fragwürdige Rettung dar. Seit 1992 steht es leer. Wenn auch das neue Dach erst dafür sorgte, dass die Villa bis heute durchhielt, so ist sie spätestens jetzt der Zerstörung durch Mensch und Natur ausgesetzt.
Dokumentenmappe der Botschaft der Republik Zambia, November 2022
Die Zukunft für die Villa vor Schönholz ist ungewiss und sie sollte zu Ihrem Schutz wenigstens beräumt und erneut versiegelt werden. Über die Entdeckung der Pseudokrypta freue ich mich noch immer. Sie wurde bisher nie erwähnt und stellt neben dem pompösen Treppenaufgangstor die zweite architektonische Auffälligkeit dar, die bis heute erhalten geblieben ist.
Kleine Kellerkapelle in der Villa vor Schönholz, November 2022
Tür zum Kelleraufgang
Gekachelter Küchenboden im Keller, 2022
Speiseaufzug im Keller
Schacht vom Speiseaufzug Blick vom Keller hoch zum Dachboden
Lars Bocian (links) und Autor Christian Bormann (rechts), 2021
Die Heilanstalten Berlin-Buch umfassten mehrere Krankenhäuser und Pflegeheime. Ursprünglich begann alles mit zwei Lungensanatorien, zwei Psychatrischen Kliniken sowie einem Alters- und Pflegeheim. Dem angeschlossen war ein Anstaltsfriedhof.
Heimstätte für Brustkranke „Das Waldhaus“, 1910
Unter der Leitung des damaligen Stadtbaurates und Architekten Ludwig Hoffmann enstand die kleine Krankenhaustadt 1898 bis 1930. Mein persönliches Lieblingsgebäude ist das sogenannte „Waldhaus“. Die Heimstätte für Brustkranke wurde ab 1901 erbaut und ging 1905 in Betrieb. Bis zu 150 Tuberkulosekranke sollten hier an der frischen Luft von Buch wieder zu Kräften kommen.
Luftaufnahme „Am Waldhaus“, April 2022
Das T-Förmige Gebäude ist einem barocken Schloss nachempfunden. Die Fassadengestaltung soll von Hoffmann einst viel prunkvoller geplant gewesen sein, wurde aber aus Kostengründen vereinfacht.
Luftaufnahme Plattenbau „Am Waldhaus“, April 2022
Im Inneren beherbergt das Waldhaus einen großen zentralen Saal unter dem Mittelschiff, eine von Säulen getragene Galerie endet an der Rundbogendecke. Die Enden der Säulen sind knapp unter der Galerie mit Figurenschmuck vom Bildhauer August Vogel verziert. Die drei Flügel des Sanatoriums verfügen neben einer Küche über unzählige Flure sowie kleine und große Treppenaufgänge mit wunderschönen schmiedeeisernen Jugendstilgeländern.
Sanatorium „Am Waldhaus“, April 2022
Entlang der Flure befinden sich die Krankenzimmer und Liegehallen. In einigen Teilen des Gebäudes sind noch die originalen farblichen Gestaltungen von Franz Naager erhalten. Das altehrwürdige „Waldhaus“ hat viele Regierungen überstanden, bis es dann 1992 endgültig stillgelegt wurde.
Eingangsbereich, dahinter Foyer zum großen Saal, April 2022
Eine landeseigene Berliner Immobiliengesellschaft verwaltete das Sanatorium seit seiner Stilllegung. Schon bald wird das gesamte Areal mit einem großen Wohnbauprojekt umgestaltet. Das unter Denkmalschutz stehende Waldhaus soll erhalten bleiben und selbst 200 Wohnungen beherbergen.
Krönung des vorderen Terasseneingangs
Die jahrelange Versiegelung des Gebäudes wurde schon vor einiger Zeit enfernt. Bis dahin war der Zutritt nur über einen Kriechtunnel, der die Fernwärmeleitung vom Plattenbau in das Sandhaus führte, möglich. Das Gebäude wird also entweder kommerziell umgestaltet oder durch die fehlende Versiegelung von Randalieren zerstört, wie im Fall des „Säuglings- und Kinderkrankenhauses Weißensee“ geschehen.
Zerstörte Türflügel und Fenster auf der Süd-Terrasse zum großen Saal, April 2022
Alles Gründe genug, das alte Sanatorium im April 2022 nocheinmal zu besuchen und seine Geschichte anhand einiger Fotos noch einmal zu erzählen. Auch in diesem desolaten Zustand beeindruckt das Waldhaus heute noch von innen und außen. Der morbide Charme abbröckelnder Farbe in Fluren, deren Konturen nur im Restschein der mit Brettern vernagelten Fenster zu erkennen sind, ist beeindruckend.
Treppe zur Terrasse am großen Saal, April 2022
Das gesamte Sanatorium ist bis auf eine alte Phönix-Nähmaschine aus den 1920er Jahren im Keller beräumt. Die verwaisten Liegesäle und die endlosen Flure mit ihren offenstehenden Türen zu den Krankenzimmern wirken gespenstisch. Beeindruckend ist der große Saal, in den man mühelos über die Terrasse gelangt. Jahrzehntelang ein Ort der Begegnung und Hoffnung, wartet er heute im Halbdunkeln auf seine Erweckung.
Graffiti am Sandhaus, April 2022
Foyer der Klinik, April 2022
Kellertreppe
Keller der Klinik
Keller mit Versorgungsräumen, April 2022
Phoenix-Nähmaschine, ca. 1920
Keller mit technischer Einrichtung, April 2022
Unterrichtskabinett für Elektronik, EDV, BMSR, April 2022
Keller
Kellertreppe
Flur
Flur
Großer Saal von Ludwig Hoffmann, August Vogel und Franz Naager, April 2022
Galerie im großen Saal
Autor Christian Bormann im großen Saal, April 2022
Das Gebäude der ehemaligen Botschaft der Republik Irak in der DDR befindet sich in der Tschaikowskistraße 51 in Niederschönhausen. Die Republik Irak war das erste nichtsozialistische Land, welches die DDR anerkannte.
Botschaft der Republik Irak in der DDR 1990
Der für Pankow typische Botschaftsplattenbau des Typs IHB II – Bauart SK Berlin 72 wurde 1974 vom „IHB“ Bau-und Montagekombinat Ingenieurhochbau geplant und realisiert. Bereits in den 1980er Jahren wurden Botschaftsmitarbeiter unter Terrorverdacht festgenommen. Über die Jahre gab es immer wieder Gerüchte um die in Geheimdienstkreisen berüchtigte Irakische Botschaft.
Ruine auf dem Grundstück der Botschaft der Republik Irak, Oktober 2022
Die „Junge Welt“ berichtete 1990 über ein Sprengstofflager in der Botschaft, der „Spiegel“ zieht 1991 nach und nennt die Botschaft einen Unterschlupf für irakische Geheimagenten des „Mukhabarat“. Von hier aus soll die Republik Irak ihr Agentennetz unterstützt haben.
Warntafel, Exterritorialgelände, Eigentum der Botschaft Irak, Oktober 2022
Die Bundesrepublik Deutschland forderte 1991 vor dem Hintergrund des 2. Golfkrieges alle irakischen Diplomaten auf, das Land zu verlassen. Die Botschaft in der Tschaikowskistraße wurde praktisch über Nacht aufgegeben. Die Mitarbeiter nahmen nur ihre persönlichen Sachen aus dem Arbeitsgebäude mit und zogen die Türen hinter sich zu, als würden sie am nächsten Morgen wieder zur Arbeit erscheinen.
Überwachsene Gartentreppe ins Hochparterre, Oktober 2022
Doch nie sollte ein irakischer Diplomat die Botschaft wieder betreten. Dafür traten wir Kinder nur einige Tage nach dem Verschwinden der Iraker auf den Plan. Wir Kinder, das waren Gordon, Mattie und ich. Es war 1991 und wir waren 10 und 11 Jahre alt. Unseren Lieblingsort im alten Ballhaus an der Grabbeallee mussten wir aufgeben. Nachdem wir im Ballhaus einige Wochen lang unsere Nachmittage verbracht hatten, waren die Nachbarn aufmerksam geworden und es wurde Zeit, sich ein neues Hauptqartier zu suchen.
Bewachsene Originalbank aus 1974, Oktober 2022
So liefen wir die Grabbeallee ein Stück runter, bis zum Zingergraben, direkt hinter dem damaligen Grabbe-Club, heute Kurt-Lade-Club. Wir sprangen über das kleine Ziergeländer und zogen den Graben in Richtung Schönholzer Heide weiter, bis wir am rückwärtigen Garten der Botschaft ankamen. Mattie wohnte in der Tschaikowskistraße, fast gegenüber der Botschaft und war der Meinung, das Gebäude stünde schon tagelang leer.
Brandherd im Kellergeschoss, Oktober 2022
Gordon war der Ältere von uns Dreien. Er traute sich als erstes in den Garten der Botschaft. 1991 war der Garten noch gepflegt und von allen Seiten einsehbar. Wir mussten also erstmal ungesehen vom Zaun am Zingergraben durch den Botschaftsgarten in Deckung gelangen. Am Ende der Steintreppe zur Terrasse lag ein Schlüssel unter der letzten Stufe.
Verschlossener Botschaftshaupteingang, Oktober 2022
Wir waren frech genug, den Schlüssel auszuprobieren. Vorsichtig schlichen wir geduckt die Treppe rauf zur ersten Tür, er passte, aber drehte sich nicht. Die zweite Tür war nur wenige Meter entfernt und hier funktionierte der Schlüssel. Wir hofften, dass uns noch kein Nachbar gesehen hatte und betraten die Botschaft, mein Herz schlug bis zum Hals.
Sicherheitseingang mit Passkontrolle, Oktober 2022
Plötzlich standen wir in einem Büro. Es sah aus, als wären die Mitarbeiter nur kurz zur Mittagspause gegangen. Vom Flur aus erkundeten wir das Erdgeschoss Raum für Raum. Ich erinnere mich noch an einen kleinen Raum voll mit Schlüsselbrettern. Mit Hilfe der Schlüssel kamen wir jetzt überall rein.
Botschaftsfoyer, Oktober 2022
Im Erdgeschoss, was mehr einem Hochparterre entsprach, gab es einen merkwürdigen Raum, den wir als Kinder nicht verstanden. Es war eine Art Technikraum, die Wände kahl und mittig zu zwei Dritteln mit Schalttafeln, die vom Boden bis zur Decke reichten ausgestattet. Heute weiß ich, dass es sich um einen alten Computer gehandelt haben muss.
Botschaftsfoyer Holzschiebewand, Oktober 2022
Wir betraten jeden Raum und jedes Büro im Erdgeschoss. Durch die Sichtschutzwände aus Keramik von Hedwig Bollhagen konnten wir uns auf dem Flur fast frei bewegen. Die HB-Werkstätten für Keramik haben für mehrere Pankower Botschaften dieses Bautyps Sichtschutzwände in verschiedenen Ausformungen angefertigt. Sie fügen sich heute noch zeitlos in die Carrara-Waschbeton-Fassaden ein.
Eingangsbereich der Botschaft, Oktober 2022
Nach dem Erdgeschoss wollten wir die Tiefgarage im Untergeschoss erkunden. Damals schien noch viel Sonne in die großzügigen Glasfenster, so dass wir trotz fehlendem Strom genug Licht hatten, um in die Tiefgarage zu gelangen. Wir staunten nicht schlecht. Die voll intakten Büros mit Ihrem Interieur machten schon mächtig Eindruck auf uns.
Haupttreppenhaus der Botschaft mit Kunstmosaiken, Oktober 2022
Überall in den Büros hing das Konterfei von Saddam Hussein, auf den Fluren waren überlebensgroße Poster vom arabischen Führer. In der Garage angekommen zog es uns fast die Schuhe aus, wir konnten es gar nicht fassen. Im Restlichtschein des Treppenaufganges sahen wir zwei dunkle Mercedes S-Klassen stehen.
Personalraum der Eingangskontrolle, Oktober 2022
Im Halbdunkel liefen wir um die Limousinen herum und bestaunten die prächtigen Standarten, verchromte Wimpelstangen mit Irakischer Flagge. Für den ersten Tag hatten wir genug gesehen und waren uns einig, die Erkundung am nächsten Tag im ersten Obergeschoss fortzusetzen. Still und heimlich wie wir gekommen waren, verschwanden wir auch wieder.
Flurstück in der Botschaft, Oktober 2022
Am zweiten Tag schlichen wir uns wieder hinein. Wir hatten die Schlüssel und genug Mut, den Rest der Botschaft in Augenschein zu nehmen. Das 1. Obergeschoss unterschied sich nicht wesentlich vom Erdgeschoss. Ein Büro nach dem anderen, Besprechungsräume, eine Teeküche und ein blau gefliestes Bad. Am Ende allerdings befand sich eine Aufbewahrungskammer mit Regalen und einer fest installierten Leiter, die gleichzeitig als Dachausstieg diente.
Konferenzraum mit Stabparkett, Oktober 2022
Der hintere kleine Personaltreppenaufgang ging nur bis ins 1.OG, also mussten wir den Flur wieder zurück. Hier gab es nicht wie im Erdgeschoss Keramiksichtschutzwände, sondern großflächige Fenster. In den gegenüberliegenden Gebäuden herrschte reger Betrieb und einmal in der Stunde fuhr ein Funkwagen zur Kontrolle vor. Wir schlichen also geduckt Meter um Meter in Richtung Haupttreppe, als der besagte Funkwagen vor der Botschaft hielt.
Kleine Teeküche, als einziges erhaltenes Inventar im Gebäude, Oktober 2022
Diesmal stieg die zweiköpfige Besatzung aus und schaute etwas genauer in die Fenster unseres Flurs. Ich habe nicht vergessen, wie wir starr vor Angst zu dritt auf dem Flur lagen. Saddam grinste uns von einem risiegen Plakat am Ende des Flures an. Es hat bestimmt zwanzig Minuten gedauert, bis wir uns trauten aufzustehen. Das 2.OG lag noch vor uns.
Gerätekammer mit Leiter zur ersten Dachebene, Oktober 2022
Wir hatten uns schnell vom Schreck erholt und liefen die Treppen ins letzte Stockwerk hoch. Hier hatte der Botschafter sein Zimmer und davor einen riesigen Konferenzraum. Holzgetäfelte Wandverkleidungen, soweit das Auge reichte. Chrom, Leder und wunderschöne arabische Teppiche. Unsere Entscheidung stand fest. Hier lassen wir uns nieder, hier können wir schön hausen. Das neue Hauptquartier war gefunden.
Mit Essigbäumen bewachsenes Dach, Oktober 2022
Im Vergleich zur Ruine vom alten Ballhaus hatten wir ein großen Schritt gemacht. Ich nahm sofort am Schreibtisch des Botschafters Platz. Die lederne Tischauflage und den dazu passenden Stifthalter nahm ich mit nach Hause, wo sie umgehend ihren neuen Platz auf meinem Schreibtisch einnahmen.
Nasszelle für mehrere Duschen, Oktober 2022
Tag drei das gleiche Ritual, den Zingergraben entlang über den Zaun und ab in die Botschaft. Diesmal war alles anders. Wir hatten am Vortag vergebens die Botschaft nach Schlüsseln für die Tresore abgesucht. Es waren gut ein Dutzend verteilt über Büros und Botschafterzimmer. Als wir ins Botschafterzimmer eintraten, war der Tresor geöffnet worden. Das konnte nur über Nacht geschehen sein.
Einzelbad mit Wanne, Oktober 2022
Uns wurde ganz schön unwohl bei dem Gedanken, dass wir nicht die Einzigen im Haus waren. Wir schauten auch in den Büros auf den anderen Etagen nach und jeder einzelne Tresor war über Nacht geöffnet worden. Aber sie waren nicht leer. Ich trug den verbliebenen Inhalt der Tresore zusammen. Da waren ein gutes Dutzend irakischer Pässe mit Diplomatentankkarten von Shell. Ein Fotokatalog der Botschaft zu Ihrer Eröffnung. In der Mappe war die komplette Botschaft katalogisiert und dokumentiert.
Hauptaufgang im Obergeschoss mit zerstörter Wanddekoration, Oktober 2022
Die Fotos waren etwa A4-Größe und zeigten die Botschaft in all ihren Details. Auffällig war ein Fotokatalog mit arabischen Teppichen, mit denen die Botschaft ausgestattet war, darunter wirklich wertvolle Stücke. Im Tresor des Botschafters befanden sich Fotos, aber ganz anderer Art. Die harmlosesten zeigten Politiker wie Günther Mittag beim Besuch der Botschaft. Das Gros der Fotos aber waren Aufnahmen von Saddam Hussein im Golfkrieg, wie er in Schützengräben steht, Luftaufnahmen von Raketen vor dem Einschlag, Satellitenbilder von Orten vor und nach einem erfolgten Angriff.
Blick vom Obergeschoss nach unten. Links und rechts ist die Wanddekoration zu sehen, Oktober 2022
Als Zugabe lag noch eine VHS-Kassette im Tresor. Sie war arabisch beschriftet. Video, Fotos und Pässe nahm ich in einem Koffer mit, der leer herumstand. Beim späteren Ansehen des Videos stellte sich raus, es waren Golfkriegsszenen, aufgenommen von irakischen Streitkräften.
Ausschnitt der beidseitigen Wandmosaike vom Hauptaufgang der Botschaft, Oktober 2022
Wir kamen auch am nächsten Tag noch einmal wieder. Durch eine Bürotür zum Garten betraten wir die Botschaft wie auch in den drei Tagen zuvor. Als wir gerade auf den Flur wollten, um ins 2.OG zu gelangen, sahen wir, dass der Flur und das Foyer akkurat mit Löschpulver ausgesprüht worden waren. Selbst als Kinder verstanden wir gleich, dass das keine Vandalen gewesen waren. Das Löschpulver war beim Verlassen des Gebäudes ausgebracht worden, um Fußspuren beim Betreten sichtbar zu machen.
Gartenseite des Gebäudes mit Untergeschossparkplatz, Oktober 2022
Woher wir wussten, dass es beim Verlassen des Gebäudes versprüht wurde? Es gab nicht eine Fußspur. Unsere waren jetzt die ersten und absolut verräterisch. Ich weiß nicht mehr, wer von uns auf die Idee kam, den Gebäudestrom wieder einzuschalten aber wir taten es tatsächlich.
Treppe in den alten zugewachsenen Botschaftsgarten, Oktober 2022
Diesmal hatten wir Taschenlampen, als wir in den Keller gingen. Hier standen die zwei Mercedes S-Klassen, mit denen wir als führerscheinlose Kinder so gar nichts anstellen konnten. Wir wandten uns jetzt einem wirklich großen Hebel zu. Zwei von uns waren nötig, um den an der Wand montierten Hebel umzulegen.
Stifthalter vom Schreibtisch des Botschafters der Republik Irak in Deutschland 1991
Mit dem Strom kam auch der Alarm. Ein ohrenbetäubener Gebäudealarm. Spätestens jetzt wußte jeder, dass in der Botschaft etwas nicht stimmte. Wir legten den Schalter wieder auf „Aus“ und rannten, was das Zeug hielt. Ich verschloss die Botschaft hinter uns und wir betraten sie nie wieder.
Blick in den Botschaftsgarten, Oktober 2022
Nach über 30 Jahren war ich wieder in der inzwischen versiegelten Botschaftsruine. Ein trauriger Anblick, in meiner Kindheitserinnerung war die Botschaft ein Ort der Schönheit und des Staunens. Jetzt laufe ich durch einen ausgebrannten Keller, die Mosaikkunstwerke im Hauptreppenhaus sind bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Das gesamte Gebäude ist bis auf zwei Bäder und eine Teeküche entkernt. Plötzlich fühle ich mich sehr alt. Mehr als ein Vierteljahrhundert war ich nicht mehr hier und der Sprung von meiner Kindheit 1991 in dem Gebäude zu meinem Besuch 2022 fühlt sich beklemmend an. Ich mache das Beste draus und freue mich darauf, mit den Fotos endlich die Geschichte der Botschaft erzählen zu können. Ach ja, der Stifthalter vom Schreibtisch des Botschafters steht seit 1991 bis heute auf meinem Schreibtisch und erinnert mich an dieses Kindheitsabenteuer in der Nachwendezeit. Auch wer die nächtlichen Besucher waren, ist heute bekannt. Es waren die Amerikaner, die nachts die Tresore geöffnet hatten und auch in den nächsten Nächten noch die Botschaft durchsuchten. Wir hatten also die Tagschicht und der amerikanische Geheimdienst die Nachtschicht.
Der vergessene S-Bahnhof „Buchholz Nord“ befindet sich auf der Linie S8 zwischen den Haltestellen Blankenburg und Mühlenbeck-Mönchmühle. Es ist ein sogenannter Vorratsbahnhof. Die DDR plante auf den nördlichen Rieselfeldern eine Plattenbausiedlung „Hobrechtsstadt“.
Blick von der Bucher Straße auf den Vorratsbahnhof, Juni 2022
Von der Autobahnbrücke Bucher Straße ist der Bahnsteig durch die Graffiti gut zu erkennen. Genau gegenüber der Autobahnabfahrt Bucher Straße, von Pankow kommend, befindet sich heute eine Abfahrt zwischen den Ampeln. Sie wird nur noch landwirtschaftlich genutzt, führt aber zum Bahnhofsrohbau.
Landwirtschaftlicher Nutzweg Bucher Straße, Abfahrt zum Vorratsbahnhof „Buchholz Nord“
Es gibt noch einen zweiten vergessenen Vorratsbahnhof auf der S8 nahe der KGA Birkengrund. „Arkenberge Ost“ hat zwei Bahnsteige und sollte über ein angeschlossenes Bahnwerk verfügen. Beide Bauten sind noch ohne Dach, aber in kürzester Zeit ausbaubar.
Luftaufnahme: Vorratsbahnhof „Buchholz Nord“ mit S-Bahn, Juni 2022
Aus der Plattenbausiedlung „Hobrechtsstadt“ wurde bekanntlich nichts und so wurden weder ein Bahnhof noch ein Bahnwerk gebraucht. Es gab über die Jahrzehnte immer wieder Planungen, Buchholz Nord städtebaulich zu erweitern und so wurden die Bahnhofrohbauten bis heute weiter vorgehalten.
Autor Christian Bormann auf dem Bahnsteig „Buchholz Nord“, Oktober 2022
Zwischen Schönerlinder Straße und Bucher Straße sowie der A10 soll ab 2026 ein 190 Hektar großes Gewerbegebiet entstehen. Möglicherweise kommt „Buchholz Nord“ eines Tages doch noch aus dem Dornröschenschlaf ans Netz.
Zu den zweifellos interessantesten Grundstücken in Niederschönhausen gehört für mich das Holländerhaus mit seiner bewegten und recht gut dokumentierten Historie. Seit Jahren vermute ich, dass sich im Boden des Grundstücks, das von der Dietzgenstraße bis zum Kreuzgraben in der Platanenstraße reicht, viele Zeitzeugnisse befinden, die sich auch den Personen zuordnen lassen, die hier lebten.
Holländerhaus um 1910
Hinter dem Holländerhaus erstreckt sich das Grundstück bis zum Kreuzgraben. Etwa zwei Drittel waren jahrzehntelang lang mit Eichen zugewachsen, Efeu war bis in die Baumkronen geklettert. Der Ort wirkte wie aus der Zeit gefallen. Das war er auch, bis vor zwei Jahren die Bagger anrückten und das Naturidyll kahl schlugen. Nur wenige Bäume sind ab der Grundstückshälfte stehen geblieben. Ein trauriger Anblick, aber auch die Möglichkeit, meine Vermutung zu überprüfen.
Luftaufnahme Holländerhaus Dietzgenstraße, Juni 2022
Die Bankiersfamilie Fetschow kaufte 1802 das Grundstück von Bauer Kraft. Damals nur die ersten 60 Qadratruten. Die Erweiterung geschah durch wiederholten Zukauf von Flächen bis zum Kreuzgraben. Die Fetschows hatten ihr Bankhaus in der Berliner Klosterstraße 87. Nach dem Tod ihres Mannes ließ die Witwe Henriette Sophie Fetschow das Sommerhaus abtragen und 1816 durch ein einstöckiges Haus aus roten Backsteinen im holländischen Stil ersetzen. Aus dieser Zeit stammt auch der Name Holländerhaus. Madame Fetschow, wie sie liebevoll genannt wurde, war mit Prinzessin Marianne befreundet. Sie setzte sich für bessere Ausrüstung der Soldaten in den Befreiungskriegen und die Linderung der Nöte der armen Dorfbevölkerung ein. Am 16. Januar 1818 erhielt sie dafür den Luisen-Orden.
Gesamtansicht des Grundstücks Holländerhaus, Juni 2022
Im Familiensaal des Hauses empfing sie Mitglieder der Königlichen Familie, Feldherren der Befreiungskriege aber auch die Künstler und Gelehrten Ihrer Zeit. Zu nennen sind hier ganz prominent Karl Friedrich Schinkel und Peter Christian Friedrich Wilhelm Beuth. Madame Fetschow ließ das Haus 1847, nur drei Jahre vor Ihrem Tod 1850, noch einmal überbauen.
Grundstück hinter dem Max-Delbrück-Gymnasium und dem Holländerhaus zur Platanenstraße bis zum Kreuzgraben (rechts), Juni 2022
Ihre Erben verkauften Haus und Hof 1850 an den vermögenden Berliner Fabrikanten, Kunstschlosser und Hobbyschmied Carl Friedrich August Hauschild. Sein Unternehmen soll seinerzeit das wichtigste in der Berliner Luisenstadt gewesen sein. Hauschild ließ das bis dahin immer noch einstöckige Holländerhaus 1852 aufstocken. Im Inneren ließ er einen Rittersaal einbauen, in dem der Hobbyschmied seine gesammelten Prunkstücke ausstellte. Rüstungen, Turnierhelme, Lanzen und vieles mehr. Die Fassade wurde um einen Holzbalkon mit neogotischen Formen erweitert. So wurde das Holländerhaus bei den Dorfbewohnern zum Patrizierhaus. Die Bezeichnung Holländerhaus trägt es bis heute. In der roten Backsteinremise auf dem Hof, die in Schinkelscher Formensprache gebaut wurde, unterhielt Hauschild seine private Kunstschmiede.
Bodenfund: Hufeisen und Verbindungsstück für Doppelgespann von 1500 bis 1900
Carl Friedrich August Hauschild starb 1868. Er hinterließ eine Witwe und 8 Töchter. Die Erben verkauften das Grundstück an Frau Bertha Damköhler für 17.500 Taler. Ab 1885 soll ihr Schwiegersohn Dr. phil. Hugo Bratsch das Haus bewohnt haben. In den letzten Kriegstagen 1945 lag das Grundstück im Kampfgebiet. Beim Ausbruchsversuch Deutscher Einheiten über die Dietzgenstraße war das heutige Schulgebäude auf dem Nachbargrundstück stark umkämpft. Deutsche Soldaten hatten sich verschanzt und wurden von Sowjetischen Einheiten gefangen genommen. Ab 1984 war die „ZIM“, Kürzel für Kombinat Zentraler Industrieanlagenbau, Besitzer des altehrwürdigen Hauses. Auf Verlangen der Denkmalschutzbehörde der DDR musste das Kombinat die Restaurierung des Holländerhauses vornehmen.
Bodenfund: Rest eines ovalen gusseisernen Schildes mit historischer Schlachtdarstellung, etwa 1860 vermutlich von Hauschild
Im Mai 2022 rückten die Bagger erneut an. Jetzt ging es daran, die erste Schicht Oberboden abzuschieben. An den traurigen Anblick hatte ich mich die letzten Monate schon gewöhnt. Jetzt überwog die Neugier, was der Boden nach über 200 Jahren an Geschichten zu erzählen hatte und wieder preisgab. Neben einer vermutlich in den 1950er Jahren angelegten Grube, in der sich Hausrat überwiegend aus Metall befand, beherbergte der Boden auch allerhand rote Ziegel aus verschiedenen Epochen. Sie lassen sich auf die zahlreichen Umbauten des Hauses zurückführen.
Bodenfund: Kunstschmiedearbeit Lampenschirm mit eingefassten bunten Steinen, etwa 1860, vermutlich von Hauschild
Und wie ich vermutet hatte, kamen Tag für Tag neue historische Einzelfunde zum Vorschein. Es dauerte mehrere Tage, bis die Bagger die gesamte Fläche abgeschoben hatten. Die hier gezeigten Funde sind ein Ausschnitt der in mehreren Tagen geborgenen Fundstücke. Bei dem vermeintlich ältesten handelt es sich um Pferdefuhrwerkzubehör, ein Verbindungsstück für ein Doppelgespann, das so in seiner Form handgeschmiedet von 1500 bis 1900 Verwendung fand. Es könnte tatsächlich noch auf die Feldbewirtschaftung von Bauer Kraft zurück gehen.
Bodenfund: Rest eines Deckenleuchters, 1850 bis 1900
Auch Reste eines alten Deckenleuchters, wie er 1850 bis 1900 üblich war, fanden sich, ebenso wie eine Maiolika mit Putten, vermutlich war sie das Zwischenstück einer Etagere oder eines Tafelaufsatzes. Nachdem das Grundstück weitgehend beräumt und sicher genug war, habe ich meinen dreijährigen Junior mitgenommen. Eigentlich sollte gar nichts mehr zu finden sein. Er hat keine Minute gebraucht bis er seinen ersten Fund machte. Ein vollständig erhaltenes Vorratsgefäß, das hier schon über 100 Jahre im Boden auf seine Entdeckung wartete.
Mein Junior und sein erster großer Fund: Gefäß 1850 bis 1900
Am interessantesten waren aber zwei Bodenfunde, die ich allzu gern Carl Friedrich von Hauschild zuschreiben möchte. Da wäre zum einen der handgeschmiedete Lampenschirm. Die bunten, übergroßen Steine sind an der Unterseite des Schirmes einzeln und individuell gefasst, der gesamte Schirm wurde um die Steine herum aufgebaut. Er ist verbogen und einige Steine fehlen aber seine einstige Einzigartigkeit ist noch zu erahnen.
Bodenfund: Voratsgefäß um 1850 bis 1900
Am beeindruckendsten ist für mich aber das große Schild. Umrahmt von einem Kordelbandmuster zeigt es eine historisierte Schlachtszene. Reiter zu Pferden mit etruskisch anmutenden Helmen und Gewändern. Auf der Abbildung metzelt ein Reiter zu Pferd einen anderen Reiter mit Schwert und Schild nieder, der mit seinem Pferd bereits unter dem Pferd des Angreifers liegt. Umrahmt ist der Ausschnitt von Engeln und weiteren Ornamenten, wie einem Füllhorn.
Bodenfund: Maiolikaeinsatz um 1850 bis 1940
Das Zusammenführen verschiedener historischer Stile war im Historismus durchaus üblich. Wie auch bei dem geborgenen Lampenschirm gehe ich davon aus, dass auch das eiserne Schild aus der Schmiede von Hauschild stammt, die er in seiner Remise auf dem Hof betrieb. Auf der Rückseite befinden sich Reste von rotem Backstein und Fugenmörtel. Wahrscheinlich war das Schild fest an einer Ziegelwand montiert, bis es zu Schaden kam oder bei Abrissarbeiten entsorgt wurde.
Bodenfund: Munitionskiste, sowjetischer Helm (oben), zwei deutsche Helme (unten), Bajonett, um 1945
Zuletzt die als erstes zu Tage getretenen Zeugnisse des zweiten Weltkrieges. Die Munitionskiste, drei Helme und ein Bajonett zeugen noch vom Kampf auf der Dietzgenstraße und um das benachbarte Schulgebäude, in dem sich deutsche Soldaten verschanzt hatten. Diese Überreste sind leider überall auf Grundstücken um die Dietzgenstraße verteilt. Letztes Jahr haben wir im Beitrag über den Ausbruchversuch versprengter Deutscher Einheiten berichtet. Gegenüber dem Holländerhaus im Eingangsbereich zum Brosepark befanden sich 1945 die Notgräber der Toten, bevor sie umgebettet wurden.
Autor: Christian Bormann
Red. Bearbeitung: Martina Krüger
Fotos: Christian Bormann, Guido Kunze, historische Postkarte vom Holländerhaus
Viele werden ihn kennen, den inzwischen historisch gewordenen Imbiss an der Schönhauser Allee/Ecke Dänenstraße. Aber wer weiß schon, dass hier alles mit einem winzig kleinen Buchladen begann? Auf dem Foto von 1968 betrachten drei Frauen die spärliche Schaufensterauslage. Der kleine Schornstein auf dem Dach verrät den Ofen, mit dem die zwei Mitarbeiter den Bücherladen im Herbst und Winter noch beheizen mussten.
Buchhandlung Schönhauser Allee, 1968
Da der Buchladen bei all der überbordenden kommunistischen Lektüre schnell zu klein wurde, zog er aus und die Handelsorganisation Ost, kurz „HO“ übernahm 1981 das Objekt. Nicht nur in der Schönhauser Allee, in allen größeren Städten der DDR wurden solche Ladenobjekte zu dieser Zeit eröffnet, um den Wunsch der Bürger nach „Kommerzieller Schnellverpflegung“ zu bedienen.
Imbiss noch ohne Reklame, 1981
Das Rationalisierungs- und Forschungsinstitut „Gaststätten, Hotels und Gemeinschaftsverpflegung“ wurde damit beauftragt, Gegenentwürfe zu Hot Dog, Burger und Pizza vorzustellen. Und so enstanden Kettwurst, Grilletta und Krusta. Die Kettwurst ging 1979 an den Start und gewann unter der Bezeichnung: Exponat „Versorgungslösung Kettwurst“ sogleich eine Urkunde auf der „Messe der Meister von Morgen“.
Imbiss Buffet Schönhauser Allee, 1986
Das Rationalisierungs- und Forschungszentrum „Gaststätten, Hotels und Gemeinschaftsverpflegung“ saß in Berlin. Somit ist die Kettwurst eine echte Berlinerin. Auf den Fotos von 1986 ist zu sehen, dass die Kunden in der Dänenstraße an der Ausgabe stehen und nicht wie heute in der Schönhauser Allee.
HO-Imbiss „Buffet“ Schönhauser Allee, 1981
Schaut man ganz genau hin, ist es immer noch der alte Buchladen. Der ehemalige Kundeneingang zur Schönhauser Allee wird als Personaleingang verwendet und das Schaufenster vom Buchladen ist die Ausgabe.
Imbiss Buffet etwa um 1988
Sogar die Werbetafeln des Buchladens aus den 1960ern sind noch die selben und wurden lediglich mit Farbe übermalt und neu beschriftet. Ich selbst bin Jahrgang 1980 und meine erste Kettwurstquelle war der Pavillon im Bürgerpark. Als Anwohner keine 2 Minuten enfernt.
Blick unter dem U-Bahnbogen auf den Imbiss, etwa 1988
Für mich ist der „Kettwurststand auf der Schönhauser“, wie ich ihn nenne, etwas ganz Besonderes und auch der Betreiber Alain André, der mir bis heute die echte Kettwurst erhalten hat. Alain ist gebürtiger Franzose und war zum Mauerfall Westberliner. Er gehörte zu den Jungunternehmern, die sich was aufbauen wollten und der Osten lockte.
Umbau der HO-Verkaufsstelle zu Alain’s Snack, 1991
Das Ende der DDR ließ auch meine Kettwurstquelle im Bürgerpark versiegen. Mit zunehmendem Aktionsradius als Heranwachsender stieß ich dann 1992 in der Schönhauser Allee auf Alain’s Snack und meine neue Kettwurstconnection. Wörter wie „Quelle“ waren jetzt out. Auch heute halte ich noch zwei bis drei mal im Monat hier an und hole mir meine „Ketti“.
Der Fronteingang wird geschlossen, 1991
Ich kenne Alain seit vielen Jahren vom Sehen. Er hat mir einiges von seinem Start als Unternehmer und wie er den Imbiss 1991 übernommen hat erzählt. Wir sitzen zusammen und Alain hat zwei Fotoalben mitgebracht. Während ich meine „Ketti“ esse, blättern wir durch die Fotoalben. Er erzählt von Damals und ich höre gespannt zu.
Neue Fassadendekoration, 1991
Wie er als damals noch etwas naiver Jungunternehmer gleich bei Konopke vorstellig wird und seine „Hilfe anbietet“, er lacht und sagt: „Ich wurde freundlich aber bestimmt des ,Hofes‘ verwiesen mit dem Hinweis, dies ist ein Familienbetrieb und bleibt es“. Konopke war damals schon alteingesessener Gastronom auf der Schönhauser. Alain ist es nach inzwischen über 30 Jahren auch. Zu Familie Ziervogel die Konopke seit Generationen betreibt, hat er heute ein gutes Verhältnis. Man kennt sich als Gastronomen auf der Schönhauser untereinander.
Eröffnung und erste offizielle Coca Cola-Werbung nach dem Mauerfall in Ostdeutschland, 1991
Alain bekam dann doch noch sein Objekt auf der Schönhauser Allee. Es sollte der alte HO-Imbiss „Buffet“ werden. Einen Haken hatte die Sache aber. Die HO betrieb den Imbiss und die Milch-Mixer Bar zusammen. Den Imbiss durfte er nur zusammen mit der Bar übernehmen. Es führte kein Weg dran vorbei. Nachdem er einen großen Kredit aufgenommen hatte, baute er die Milch-Mixer Bar zu einer Pizzeria um.
Alain’s Snack Schönhauser Allee, September 2022
Da kam der nächste Schock für Ihn. Er hatte nun zwei Gastronomieeinheiten auf der Schönhauser Alle und niemand hatte ihn vorgewarnt, dass die Straße drei Jahre lang zur Baustelle werden würde. Die Laufkundschaft, auf die Gastronomen angewiesen sind blieb aus. Harte Jahre für den Unternehmer.
Autor Bormann (links) und Betreiber Alain André (rechts), September 2022
Einige Erinnerungen teilen wir sogar trotz unseres Altersunterschieds. Zum Beispiel an den Wochenmarkt auf der Brache gegenüber dem Imbiss neben dem S-Bhf Schönhauser Alle. Bei Regen die reinste Matschlandschaft. Heute stehen die Allee Arcaden auf dem einstigen Wochenmarkt, der dann noch einige Jahre unter dem U-Bahnbogen stattfand. Die Pizzeria verkaufte er 2001 und behielt den Imbiss. Heute gibt es hier nicht nur Kettwurst, auch Veganer und Fans von Biofleisch kommen hier auf Ihre Kosten.
Autor: Christian Bormann
Redaktion: Martina Krüger
Bilder: Christian Bormann, Alain André
Bormann's Pankower Chronik. Sagen, Mythen und Legenden aus Pankow. Autor Christian Bormann.