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Zeitkapseln in Pankow

Zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehört es, alle paar Wochen die historischen Örtlichkeiten in Pankow abzulaufen. Dabei dokumentiere ich die Veränderungen vor Ort und kann gegebenenfalls auch noch eingreifen, wenn es um Baumaßnahmen geht.

Gartenwohnhaus Gaillardstraße 2017

In vielen Fällen wissen die Eigentümer oder Bauherren gar nicht um die historische Bedeutung ihrer Grundstücke oder dessen, was sich auf ihnen noch verbirgt. So auch im Fall der Mauerteile an der Wackenbergstraße. Hier konnte ich die Zerstörung von 80 Mauerteilen der innerdeutschen Staatsgrenze verhindern.

rechter Giebel mit Werkstattluke

Dank des DDR-Museums können 4 dieser Segmente auch weiterhin besichtigt werden, der Rest ist eingelagert. Zu den spannendsten vergessenen Orten gehören die Zeitkapseln in Pankow. Es sind alte versiegelte Amtsgebäude, Fabriken und Wohnhäuser.

Empfangszimmer 2017

Eine dieser Zeitkapseln ist ein kleines Gartenwohnhaus in der Gaillardstraße am westlichen Rand von Pankow. Das erste Mal kletterte ich als Jugendlicher im Sommer 1995 in das zerfallene Haus. Aus alten DDR Milchkästen baute ich mir einen Kletterturm und zwängte mich behutsam durch ein Oberlicht in die Küche.

Küche im Haus

Das Haus, um 1900 gebaut, war damals schon stark verfallen. Der Putz beschädigt, die Holzanbauten hängen noch am Giebel, sind aber stark verwittert und drohen abzustürzen. Die Fenster und Türen von innen vernagelt, das eindringende Wasser hat Wände und Decken teilweise einstürzen lassen.

Kühlschrank um 1950

Im Foyer sind noch Glaskassetten erhalten. Die Innen- und Aussentüren des Hauses befinden sich in einem bemerkenswert guten Originalzustand. Viel interessanter als die in den Abendstunden schon gruselig anmutende Fassade ist das innere des Kleinods.

DDR Lebensmittel von 1962 bis 1969 originalverpackt / Foto 2017

Dabei ist ein Stockwerk interessanter als das andere. Gleich im Erdgeschoss wird der Besucher von ausgehangenen Zimmertüren empfangen. Strohsofas und Sessel, wie sie in der Nachkriegszeit üblich waren, finden sich in jedem zweiten Raum. Die Decken- und Stehlampen in den Zimmern sind feinster 60er Jahre Chic. Typische Haushaltswaren aus den 1950 Jahren sind auf den Zimmerböden verteilt.

Dachboden mit Waschkommode 2017

Das letzte Datum, dass sich auf verbliebenen Dokumenten und Zeitungen im Haus befindet ist der 9. Dezember 1962. Etwa seit dieser Zeit steht das kleine Wohnhaus leer. Ich beließ alles wie es war und kletterte vorsichtig wieder aus dem Haus. Die nächsten Jahre beobachtete ich das Grundstück von aussen weiter. Anfang diesen Jahres war es mal wieder soweit.

Neues Deutschland 09.12.1962

Ich besuchte meinen Bekannten Nick, auf dem Weg zu ihm hatte ich noch etwas Zeit über. Es waren schon 22 Jahre vergangen das ich selbst im Haus war. Von aussen gab es keinerlei Anzeichen für Veränderung. Kurzentschlossen schnappte ich mir die von Ranken überwucherten Milchkästen, die wie eh und je noch an der rechten Giebelseite des Hauses lagen.

Foyer von innen

Wieder zwängte ich mich durch das Oberlicht. Mit 22 Jahren Abstand kein Spaß mehr. Dieses mal blieb ich mit dem Hintern im Fenster stecken. Meine Neugier war zu groß. Anstatt auf Nummer sicher den Rückwärtsgang einzulegen, legte ich eine saubere Bruchlandung in der Küche hin.

Treppe zur Werkstatt

Und da war es. Das Gefühl, nach Ewigkeiten der erste Mensch in einer solchen Zeitkapsel zu sein. Im Haus hatte sich nichts verändert. Werkzeug, das ich zwei Jahrzehnte zuvor von den Dielen auf ein Sofa gelegt hatte, lag dort noch unberührt. Ich konnte es kaum glauben. Mit dem zeitlichen Abstand fielen mir bei meinem zweiten Besuch auch andere Einrichtungsgegenstände auf.

Haustür zum rückwärtigen Garten

Bei meinem ersten Besuch waren es die antiken Werkzeuge in der Werkstatt auf dem Dachboden, die bleibenden Eindruck hinterließen. Dieses mal waren es die Lampen und Möbelstücke, wie die Biedermeier-Waschbeckenkommode auf dem Dachboden. Auch ein kleiner Kühlschrank weckte nein Interesse. Als Jugendlicher war mir der Kühlschrank aus den 1950er Jahren entgangen. In der Absicht, mir die technische Ausstattung des Stückes einmal genau anzuschauen, öffnete ich ihn. Behutsam zog ich am Türgriff, als sich das Schätzchen öffnete, verschlug es mir die Sprache. Der Kühlschrank war voll mit originalverpackten DDR-Lebensmitteln. Bohnen, Kirschen, Letscho, einfach alles, was es an Konserven im Glas gab. Auch ungeöffnete Getränke wie Tonic standen im Kühlschrank. Die Lebensmittel waren alle original verpackt, ungeöffnet und stammten aus dem Jahr 1962. Nach dem ich alles dokumentiert hatte kletterte ich diesmal nicht durch das Oberlicht, sondern an anderer Stelle wieder aus dem Haus.

Autor: Christian Bormann, 16.07.2017

red. Bearbeitung: Martina Krüger, 16.07.2017

Fotos: Christian Bormann