Im Juli 2021 haben wir in einem Beitrag einen Blick auf das „Haus Horridoh„ geworfen. Es ist oft sehr mühselig, an Informationen aus der Geschichte eines solch altehrwürdigen Hauses zu gelangen. Fast zwei Drittel des amtlichen Aktenbestandes von Pankow wurden während des Vorrückens der Roten Armee 1945 auf Berlin im Innenhof des Rathauses Pankow verbrannt.
Umso größer war die Freude, als sich Simone Kehrer meldete. Vorfahren von ihr lebten von 1931 bis 1934 im „Haus Horridoh“. Wir verabredeten uns und ich durfte einen Blick in die alten Fotoalben der Familie werfen. Hier spiegelte sich nicht nur die Geschichte der Familie, sondern auch Bezirksgeschichte wider. Die Urgroßeltern von Frau Kehrer, Alfred Bünsow (1884-1937), Schilderfabrikbesitzer, und seine Frau Anna Alma Bünsow, geb. Pflugradt (1884-1976), lebten drei Jahre mit ihren Kindern im „Haus Horridoh“.
Alfred Bünsow war gestandener Pankgraf, hiervon zeugen noch zahlreiche Bilder. Sie zeigen ihn mit seinen Ordensbrüdern auf Ausflügen und bei Besuchen von Biergärten, stets in voller Ordenstracht. Überraschend für mich war das Foto, auf dem Anna Alma Bünsow sich vor einer Mauer des Anwesens in weiblicher Ordenstracht zeigt.
Von der damaligen Linden Straße 33, heute Grabbeallee, hatte es Alfred Bünsow nicht weit bis zum Stammlokal seiner Ordensbrüder. Das Restaurant „Zum Pankgrafen“ lag direkt in der heutigen Ossietzkystraße auf Höhe der Panke. Hier hatte das Lokal neben Sitzplätzen für mehrere Tausend Gäste auch eine angeschlossene Panke-Badeanstalt. Die Pankebäder wurde in den 1920er Jahren wegen zu starker industrieller Verschmutzung der Panke alle geschlossen und das Restaurant nebst Biergarten fiel den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs zum Opfer.
Wir bleiben zeitlich Anfang der 1930er Jahre im „Haus Horridoh“. Die Bilder zeigen den Alltag, wie er auch anderen Ortes sein könnte. Der Dackel hütet das Haus. Es werden Hühner gefüttert. Man genießt die Tageszeitung bei ersten Sonnenstrahlen. Aber eine Besonderheit verbirgt „Haus Horridoh“ in den 1930 er Jahren.
Nicht nur für heutige Verhältnisse befremdlich, dürften die Affen von Alfred Bünsow wol damals schon für Aufsehen und Gerede gesorgt haben. Vermutlich brachte eine Schwester von Alfred Bünsow die Tiere mit. Sie hatte 1919 einen deutschen Konsul geheiratet, mit dem sie viele Jahre erst in Kamerun, dann an der westafrikanischen Küste lebte.
Neben einigen Schnappschüssen der Affen im Haus und in der Remise zeigen sie auch das Pankower Leben am Wochenende. Während es sich Alfred Bünsow mit seinen Ordensbrüdern im Restaurant „Zum Pankgrafen“ gutgehen lässt, besucht Anna Alma Bünsow das nur 15 Fußminuten entfernte Traumland Schönholz, der Vergnügungspark, der nur wenige Jahre später zum Zwangsarbeiterkomplex Lunalager wird.
Die Kulissen vom Traumland Schönholz sind unverwechselbar. Damals gab es hier ein Riesenrad, die Himalayabahn, das Oberbayern, Restaurant Schloss Schönholz und vieles mehr. Es gab auch einen Pavillion, die Traumstadt Liliput, bei der sich kleinwüchsige Menschen zur Schau stellten oder gestellt wurden. Heute unvorstellbar, aber damals üblich.
1935 zog Familie Bünsow in die Parkstraße. Was aus den Affen wurde? Wer weiß? Bilder von ihnen gibt es nur aus „Haus Horridoh“. Alfred Bünsow musste jetzt nur noch einige Meter die Parkstraße entlang, in den Elisabethweg abbiegen und saß sofort im „Restaurant zum Pankgrafen“ unter seinen Ordensbrüdern. Der kurze Heimweg war bestimmt kein Zufall. Leider verstarb Alfred Bünsow schon drei Jahre nach seinem Umzug.
Dass wir heute einmal hinter die Fassade des Hauses einen kurzen Blick in die 1930er Jahre werfen konnten, verdanken wir zwei Frauen, die diese historischen Bilder aufbewahrt, gehütet, weitergegeben und mit uns geteilt haben, die Tochter von Anna Alma Bünsow, Irmgard Bünsow und deren Tochter Simone Kehrer.
Unser kleiner Einblick endet wie er begann, mit einer seltenen historischen Privataufnahme von „Haus Horridoh“. Vielen Dank an Simone für diese interessanten Aufnahmen aus dem Herzen Pankows.
In Pankow gibt es viele alte Gebäude, bei dessen Anblick dem Betrachter das Herz aufgeht und man sich unweigerlich fragt, welche Geschichte sich hinter der Fassade verbirgt.
Eines dieser Objekte ist die Villa Langheinrich, später auch Villa Bollenbach, die Leichenvilla oder Villa vor Schönholz genannt. Sie steht in der Provinzstraße 23 in Pankow-Niederschönhausen.
Das Gründerzeithaus aus den 1880ern mit seinem klassischen Historismusschmuck aussen wie innen ist ein Hingucker und echtes Juwel. Der erste Besitzer soll ab 1886 Dr. Phil. Ernst Langheinrich gewesen sein. Langheinrich war Direktor der „Preußischen Lebens- und Garantie- Versicherung AG Friedrich Wilhelm“ und wohl auch dementsprechend vermögend. Ernst Langheinrich verstarb 1898 und die Villa wurde 1902 von der Terraingesellschaft Schönholz gekauft, die bis 1918 Eigentümerin blieb.
Schon aus dieser Zeit ist bekannt, dass Max Rudolph in Villa und Garten das Restaurant „Borussia Park“ von 1901 bis 1907 betrieb. Von 1907 bis 1914 betrieb dann der Gastwirt Eduart Schaller seine Gastwirtschaft „Tivoli“. Der dritte Gastwirt war G. Eggert, der seinen Schankbetrieb von 1914 bis 1918 im Hause führte. Der Ingenieur Heinrich Bollenbach erwarb 1918 die Villa vor Schönholz, Bollenbach hatte gleich in der nahegelegenen Buddestraße eine Maschinenbaufabrik.
Ab 1920 wurde die Villa von Bollenbach als Mehrfamilienhaus vermietet. Auch das Polizeirevier 291 mietete sich von 1927 bis 1934 in das Haus ein. Als Altersheim wurde es unter dem Namen „Bergpredigt“ das erste Mal von 1934 bis 1938 genutzt. Das Kommando hatte damals Oberin G. Schabel. 1938 erbte die Witwe Martha Bollenbach die Villa und vermietete sie an die Altersheimbetreiberin Martha Richter bis 1945.
Wie zahlreiche andere Objekte in Pankow wurde auch die Villa vor Schönholz zum Kriegsende 1945 von den Sowjets in Beschlag genommen. Von 1945 bis 1947 befand sich damals das Polizeirevier 283 Niederschönhausen, Revierzweigmeldestelle Schönholz im Anwesen. Bollenbach wurde dann 1949 offiziell enteignet. Die letzte Gaststätte soll H. Jahn von 1951 bis 1952 im Haus betrieben haben. Das wirklich letzte Gewerbe hatte Marta Markowski inne. Sie betrieb das „Blumenhaus Marta“ auf dem Grundstück.
Von 1955 bis 1978 gastierte wieder ein Heim in der Villa. Die DDR hatte hier das Städtische Alters- und Pflegeheim eingerichtet, bevor 1978 bis 1985 die Zentrale Feierabendheim-Verwaltung Pankow einzog. Die letzten fünf Jahre bis zum Mauerfall unterstand die Villa dem Kreisvorstand Pankow der Gesellschaft für Sport und Technik. Das Gewerbeamt übernahm ab 1990 bis zum gelegten Großbrand 1992. Schon hier begann der Untergang des altehrwürdigen Hauses nach über 100 Jahren bewegter Geschichte.
Von 1992 bis 1998 steht die Villa mit zugemauerten Fenstern im Hochparterre und abgebranntem Dach da. Ich bin 1992 kurz nach dem Feuer als Elfjähriger, angelockt von Aktenbergen im gut einzusehenden Heizhaus, auf dem Grundstück gewesen. Meine Erinnerung beginnt mit dem damals noch vor dem Haus stehenden Heizhaus. Durch eine Lücke im Zaun betrat ich damals den Garten und lief die wenigen Meter zum kleinen einstöckigen Heizhaus hinüber. Mein erster Blick fiel gleich auf den für mich damals riesig wirkenden Ofen. Aus der offenen Luke quollen nur zum Teil verbrannte Aktenordner und Mappen hervor. Ich sah mich weiter um und überall lagen kniehohe Berge von Unterlagen.
Meine Neugier war schon von der Straße aus geweckt worden, jetzt brach das Entdeckerfieber in mir aus. Die zum Teil vermauerte Villa mit ihrem abgebrannten Dach war gespenstisch, aber sie zog mich auch magisch an. Ich lief ein paar Mal um das Gebäude, es war einfach kein Schlupfloch zu entdecken. Der Blitzableiter links vom Balkon weckte meine Aufmerksamkeit. Aus dem Garten heraus war zu sehen, dass die Balkontüren nur angelehnt waren. Es waren gute acht Meter, den Blitzableiter hoch, bis zum Balkon. Es half alles nichts, die abgesteppte Putzfassade ließ sich zusammen mit dem Blitzableiter gut als Kletterhilfe nutzen.
Das Risiko, von der Straße aus gesehen zu werden, war damals sehr hoch. Ein ordentlicher Adrenalinschub verhalf mir im Nu auf den Balkon. Ich hockte mich hin, um nicht gesehen zu werden und schob vorsichtig die Flügel der Balkontür auf. Bevor ich mich versah, stand ich in einem Dienstzimmer, in dessen Mitte sich drei aneinander geschobene Schreibtische befanden. Ich stand mitten im nur wenige Wochen zuvor abgebrannten Gewerbeamt.
Im Augenblick meines Besuches war mir nicht klar, wo ich mich befand. Die Schreibtischschubladen waren aufgerissen und überall lagen Dokumente. Ich verlies das Dienstzimmer und betrat den Hausflur, hier dämmerte es mir allmählich. Der gesamte Treppenaufgang war in voller Breite und Höhe mit Akten ausgelegt, vom Erdgeschoss bis unter das Dach, auf dem Dachboden waren sie zu kleinen Bergen aufgetürmt. An verschiedenen Stellen hatte es gebrannt und in Verbindung mit den verbrannten und unverbrannten Akten im Heizhaus war klar, dass hier Dokumente vernichtet werden sollten.
Vom Dachboden aus war der Himmel durch das offene Dach zu sehen und ich beschloss, mir mal den Keller anzuschauen. Vorsichtig versuchte ich den Treppenaufgang wieder hinunter zu gehen. Nicht so einfach, weil die Stufen mit kiloweise Akten überdeckt waren. So rutschte ich also mehr oder weniger den Ruß geschwärzten Treppenaufgang hinunter bis ins Erdgeschoss. Wärend das erste Obergeschoss und der Dachboden noch lichtdurchflutet waren, wurde es im Erdgeschoss duster. Durch die vermauerten Fenster drang kein Licht.
Vorsichtig tastete ich mich im Restlicht des großen Hausaufgangsfensters voran. Das Erdgeschoss war relativ uninteressant, da es nichts anderes als die erste Etage zu bieten hatte. Aber da war noch der Keller. Schon am Eingang, als ich unter dem Rundbogen zur Kellertreppe stand, war die Hand kaum noch vor Augen zu sehen. Kalte, feuchte Luft strömte die breiten Steinstufen aus dem Keller herauf, es roch furchtbar modrig.
Ich nahm all mein Mut zusammen und tastete mich an der Wand entlang die Stufen hinunter. Die Kellerfenster waren alle verhangen, nur ganz selten drang etwas Tageslicht durch einige Spalten. Ich wagte mich einige Meter in den Hauptgang des Kellers. Hier standen einige Sofas und ich erinnere mich an rote und blaue Wandzeitungen zum Wohlgefallen des sozialistischen Bruders. Der Rest des Kellers war zu dunkel, bis hier drang nicht einmal Restlicht. Ein weitergehen hätte keinen Sinn gemacht, wo nichts mehr zu sehen war gab es folglich auch nichts mehr zu entdecken. Gottseidank wusste ich nicht, dass einige Jahrzehnte zuvor hier die für den Ausbau des Todestreifens exhumierten Leichen zwei Wochen lang gelagert wurden. Laut Zeitzeugen beschwerten sich die Anwohner über den Verwesungsgeruch bis die Leichname über Nacht verschwunden waren. Es wurde vermutet das die Gebeine nachts in der Schönholzer Heide vergraben wurden.
Langsam tastete ich mich wieder Richtung Treppenaufgang. Der Keller war mir nicht geheuer. Mein Entdeckerhunger war fast gestillt und so wollte ich zügig wieder raus aus der Villa. Im Balkonzimmer angekommen schaute ich mir nochmal einige Ordner an. Sie begannen zum Teil in der Kaiserzeit und wurden nahtlos von den Nazionalsozialisten und später den DDR-Behörden weitergeführt. Für mich als Elfjährigen waren es wohl damals die Siegel und Stempel in den Akten die mich beeindruckten. Auf Preußische Adlerstempel folgten dann die Adler mit Hakenkreuz. So packte ich ein halbes Dutzend zusammen und betrat den Balkon wieder. An der Villa rollte der Verkehr vorbei und der ein oder andere hatte mich bestimmt schon gesehen.
Jetzt musste es schnell gehen. Vorsichtig ließ ich meine Akten an der Fassade hinunter fallen, kletterte über den damaligen Betonsims und griff nach dem Blitzableiter. Die Fassade hochzuklettern war ein Klacks, hinunter half nur die Angst vor der Polizei und den eigenen Eltern, die diese Aktion bestimmt bei Kenntnis ensprechend gewürdigt hätten. Ein beherzter Abschlusssprung in den Garten, dann schnappte ich mir die Akten und sah zu, dass ich nach Hause kam. Beim späteren Betrachten der Dokumente fiel mir so einiges auf.
Es handelte sich um Gewerbeunterlagen, teilweise noch vor 1900 angelegt. Von dem halben Dutzend das ich mitnahm, enthielten einige Personendossiers der Staatsicherheit. So gab es da eine Akte über eine Gastwirtschaft oder Kneipe in der Brehmestraße, im hinteren Teil war diese mit einem Anhang versehen. Dem Anhang war sinngemäß zu entnehmen, dass der Wirt eine Vorliebe für junge Männer habe. Da dies im persönlichen Umfeld des Wirtes nicht bekannt war, ließen sich diese Erkenntnisse im Bedarfsfall zur Förderung einer Zusammenarbeit mit den Behörden der DDR nutzen.
Schlagartig war mir klar, was es mit dem Feuer auf sich hatte. Die Unterlagen sollten in einer Nacht und Nebelaktion alle mit dem Haus verbrennen. Nur gut, dass die Feuerwehr zu schnell war. Man beließ den Tatort wie er war und vermauerte einfach das Erdgeschoss. So stand das ehemalige Gewerbe- oder Wirtschaftsamt dann bis 1998 als Ruine ohne Dach an der Straße vor Schönholz. Die Botschaft der Republik Sambia kaufte 1998 die Villa und sanierte sie zwar, aber zog nie ein. Seit meinem letzten Besuch im Haus sind gute dreißig Jahre vergangen. Ich fahre fast täglich an der Villa vorbei und habe den Garten und die Fassade im Blick. Mir sind in den letzten zwei Jahren schon von außen Veränderungen am Gebäude aufgefallen, die nur von innen vorgenommen worden sein konnten. Am auffälligsten waren Rollläden, die hochgezogen wurden, obwohl das Gebäude verschlossen und seit Jahren nicht betreten worden war.
Für mich Grund genug, mal nach dem Rechten zu schauen. In der ersten Novemberwoche war es soweit. Durch das heute noch erhaltene Haupttor zur Provinzstraße 23 betreten wir zu zweit den Garten. Als erstes schaue ich mir die drei grauen runden Tonnen an, die seit Jahren im Garten stehen und liegen. Es sind alte Aktendrehschränke. Sie sind etwa 180 Zentimeter hoch und haben eine Schiebetür. Im Inneren ließen sich Akten auf Drehtellern verstauen. Einige Meter weiter befinden sich Reste der ehemaligen Vorlandsicherung der Berliner Mauer. Sie liegen über einer Senke und wurden über die Jahrzehnte hier vergessen.
Als nächstes schaue ich auf die Fassade. Wo heute vier Säulen auf einem Betonpodest stehen, war einst der gekrönte Haupteingang mit einer enorm ausladenden Steintreppe. Auch das Dach war gespenstisch bekrönt. Heute sind nur einige wenige leere Kartuschen und Muschelverzierungen mit Arkantusschmuck erhalten geblieben. Auf einer zeitgenößischen Postkarte von Schaller’s „Tivoli“ sind die ursprüngliche Fassade mit Treppe, rechtsseitiger Terrasse und das Dach noch zu sehen. Der Besucher trat also die Treppe hinauf, durch das Gartenzimmer gehend stand er dann am Treppenaufgang des Hauses. Wenn der Aufstieg der Gartensteintreppe dem Besucher noch nicht den Atem genommen hatte dann spätestens der Blick auf den mit Säulen gekrönten Treppenaufgang und seinen pompösen Stuckverzierungen.
Auch mir raubte es den Atem. Vor dreißig Jahren war es im vermauerten Erdgeschoss so dunkel, dass der Deckenschmuck nur zu erahnen war. Die damals rußgeschwärzten Wände des Treppenhauses wurden geweisst und durch die hochgezogenen Rollläden dringt Licht in die gesamte Villa. Erst jetzt erschloss sich mir die volle einstige, auf den Besucher fast einschüchternd wirkende Pracht des gesamten Eingangsbereiches. Die steinerne Eingangstreppe vom Garten wurde im Laufe der Geschichte des Hauses abgetragen und der Außenbereich zu einem Balkon degradiert. Seither wird der ursprüngliche Wirtschaftseingang, historisch gesehen die Hintertür, als einziger Eingang benutzt.
Nachdem ich den Anblick von überbordenden Stuckelementen verdaut hatte, sah ich mich im Erdgeschoss um. Vieles war noch im Zustand meines ersten Besuches 1992. Die sanitären Einrichtungen waren saniert, kleine Büros ausgebaut und die Böden waren mit Estrich abgezogen oder man hatte das Parkett saniert. Schon im Erdgeschoss waren die Zerstörungen von Buntmetalldieben zu sehen. Die sanierten Fliesenspiegel waren großflächig eingeschlagen, um an die dahinter befindlichen paar Gramm Kupferrohre zu kommen. In den Büros waren die Rigipswände eingeschlagen und sämtliche Elektroinstallationen rausgerissen. Übriggeblieben waren nur die Reste der Gummiumantelungen der Kupferkabel.
Ernüchtert ging ich den Treppenaufgang hinauf. Ein altes Sofa, das hier vermutlich schon seit Jahrzehnten stand begrüßte mich zerfetzt auf dem Treppenabsatz. Ich schob mich an den Sofaresten vorbei und wie ich befürchtet hatte, sah es im ersten Obergeschoss noch schlimmer aus. Bis zu 20 Personen bewohnen unbemerkt die Villa, sie haben die Büros und Aufenthaltsräume im 1. OG bezogen. Auch hier das gleiche Bild, eingeschlagene Wände und die Reste der Buntmetalldiebe. Im Unterschied zum Erdgeschoss kommen hier noch die Spuren der Bewohner hinzu. Im Haus verbliebenes Büromobiliar ist komplett zerschlagen, die Wände beschmiert und Türen eingetreten.
Überall Schlafplätze, soweit das Auge reicht. Ich wollte mir die Südzimmer anschauen, die hatten wunderschöne Fischgrätenparkettböden als ich sie dreißig Jahre zuvor betreten hatte. Ihr wunderschönes Parkett hatten sie noch sogar aufwendig restauriert. Ich wollte es einfach nicht glauben als ich sah, dass die heimlichen Bewohner die mit Parkett ausgelegten Zimmer als Toilette benutzten. Jeder einzelne Zentimeter war mit Fäkalien überzogen. Warum das Parkett dran glauben musste und nicht der benachbarte, gekachelte Sanitärraum, erschloss sich mir nicht.
Im Flur vor dem Treppenaufgang lagen die Reste mehrer Abendessen. Hier wurde bei offenem Feuer im Hausflur gegrillt. Angewidert gehe ich die Treppe zum Dachboden hinauf. Der Dachboden ist von innen noch nicht zu Ende ausgebaut. Auf der beplankten Seite sind die Dachschrägen und Wände schon fertig. Auch hier befinden sich mehrere Schlafplätze, an deren Kopfende die Wände auf etwa einem Meter Höhe kreisrund eingeschlagen wurden. Der Grund hierfür, die Löcher in den Wänden dienen zur Verrichtung des großen Geschäfts in die Wand. Unglaublich, ich hatte genug gesehen.
Ich lief noch einmal die Zimmer ab, um alles fotografisch festzuhalten. Im Balkonzimmer ist immer noch die angebrannte Balkontür mit ihrer zerplatzten Scheibe, hier ist das Parkett noch heil. Die Steinbalustrade, über die ich 1992 auf den Balkon kletterte, wurde durch Metallgeländer ersetzt. Durch die Löcher, die auch im Hausflur in die Gasbetonwände der Versorgungschächte geschlagen wurden, ist noch das verbrannte schwarze Mauerwerk zu sehen. Ich freute mich, dass viele der Bodenkacheln unten im Hausflur sowie in den alten Bädern noch erhalten waren.
Zu guter Letzt wollte ich mir den Keller anschauen. Vor dreißig Jahren kam ich nicht weit, der schlichte Mangel an Licht beendete meine Erforschung schon im ersten Kellergang. Mehr als ein paar alte Wandzeitungen und Sofas waren damals nicht zu erkennen. Seit der Sanierung der Villa waren die Kellerfenster wieder lichtdurchlässig. Somit stand einer erneuten Erkundung nichts im Weg.
So stand ich nun als 41-jähriger wieder unter dem Rundbogen zur Kellertreppe, an dem ich mit 11 Jahren bereits stand. Und wie damals zog kalte, feuchte Luft die Steintreppe hinauf. Der alte modrige Geruch war noch genau derselbe. Ich ging die Treppe hinab und sah als erstes wieder den Hauptgang. Inzwischen war er komplett beräumt.
Am Ende des Hauptganges bemerkte ich eine Rundbogentür, sie fiel mir sofort auf unter den anderen typischen Standardtüren. Im Keller war es so hell, dass ich nicht einmal eine Taschenlampe brauchte. Das Tageslicht schien in die kleinen Kellerfenster und verschaffte dem Ort gerade genug Licht, um alles zu erkennen. Ich schob die Tür etwas auf und dachte, mich trifft der Schlag. Damit hatte ich nicht gerechnet. Hinter der Rundbogentür befand sich eine kleine Halle im Stil einer Pseudokrypta.
Beim Blick auf die Gewölbedecke, die an zwölf mit Muschelkapitälen verzierten Säulen, endet ging mir fast das Herz über. Ich lief einige Schritte bis in die Mitte der kleinen Halle, drehte mich um und erspähte eine Altarnische. Spätestens jetzt war der traurige Anblick der über mir liegenden Etagen vergessen. Was mag sein Besitzer Besitzer Dr. Ernst Langheinrich hier unten getrieben haben? Gegenüber der Altarnische befindet sich ein Kellerausgang, der sicher seit der Gastwirtschaft von Max Rudolph ab 1901 als Wirtschaftszugang zur Küche diente.
Bis auf die von mir so genannte Pseudokrypta befindet sich noch eine große Küche im Keller. Den Bodenkacheln nach zu urteilen war die Küche spätestens seit 1901 hier untergebracht und wurde als solche bis zur Schließung des letzten Alters- und Pflegeheims Schönholz genutzt. Der historische Speiseaufzug ist bis heute erhalten. Der Schacht wurde lediglich in den Ausgabezimmern verblendet.
Nachdem ich Küche und Speiseaufzug dokumentiert hatte, zog es mich noch einmal in die kleine Säulenhalle. Ich schaute mir die hinterste Ecke genauer an. Hier lagen dutzende Telefone, Drucker und einige Unterlagen mit der Aufschrift „Botschaft der Republik Sambia“. Der Fund ließ den Schluss zu, dass hier wenigstens kurzzeitig Büros der Botschaft von Sambia betrieben wurden. Offiziell aber hat die Botschaft das Haus nie bezogen.
Genau wie dreißig Jahre zuvor zwei Etagen über mir, schnappte ich mir eine Aktenhülle für mein Archiv und verließ meine geliebte Villa vor Schönholz. Diesmal aber durch die Kellertür und nicht über den Balkon.
Was sich einst als Rettung für das Haus erwies, der Kauf durch die Republik Sambia, stellt sich heute als fragwürdige Rettung dar. Seit 1992 steht es leer. Wenn auch das neue Dach erst dafür sorgte, dass die Villa bis heute durchhielt, so ist sie spätestens jetzt der Zerstörung durch Mensch und Natur ausgesetzt.
Die Zukunft für die Villa vor Schönholz ist ungewiss und sie sollte zu Ihrem Schutz wenigstens beräumt und erneut versiegelt werden. Über die Entdeckung der Pseudokrypta freue ich mich noch immer. Sie wurde bisher nie erwähnt und stellt neben dem pompösen Treppenaufgangstor die zweite architektonische Auffälligkeit dar, die bis heute erhalten geblieben ist.
Die Heilanstalten Berlin-Buch umfassten mehrere Krankenhäuser und Pflegeheime. Ursprünglich begann alles mit zwei Lungensanatorien, zwei Psychatrischen Kliniken sowie einem Alters- und Pflegeheim. Dem angeschlossen war ein Anstaltsfriedhof.
Unter der Leitung des damaligen Stadtbaurates und Architekten Ludwig Hoffmann enstand die kleine Krankenhaustadt 1898 bis 1930. Mein persönliches Lieblingsgebäude ist das sogenannte „Waldhaus“. Die Heimstätte für Brustkranke wurde ab 1901 erbaut und ging 1905 in Betrieb. Bis zu 150 Tuberkulosekranke sollten hier an der frischen Luft von Buch wieder zu Kräften kommen.
Das T-Förmige Gebäude ist einem barocken Schloss nachempfunden. Die Fassadengestaltung soll von Hoffmann einst viel prunkvoller geplant gewesen sein, wurde aber aus Kostengründen vereinfacht.
Im Inneren beherbergt das Waldhaus einen großen zentralen Saal unter dem Mittelschiff, eine von Säulen getragene Galerie endet an der Rundbogendecke. Die Enden der Säulen sind knapp unter der Galerie mit Figurenschmuck vom Bildhauer August Vogel verziert. Die drei Flügel des Sanatoriums verfügen neben einer Küche über unzählige Flure sowie kleine und große Treppenaufgänge mit wunderschönen schmiedeeisernen Jugendstilgeländern.
Entlang der Flure befinden sich die Krankenzimmer und Liegehallen. In einigen Teilen des Gebäudes sind noch die originalen farblichen Gestaltungen von Franz Naager erhalten. Das altehrwürdige „Waldhaus“ hat viele Regierungen überstanden, bis es dann 1992 endgültig stillgelegt wurde.
Eine landeseigene Berliner Immobiliengesellschaft verwaltete das Sanatorium seit seiner Stilllegung. Schon bald wird das gesamte Areal mit einem großen Wohnbauprojekt umgestaltet. Das unter Denkmalschutz stehende Waldhaus soll erhalten bleiben und selbst 200 Wohnungen beherbergen.
Die jahrelange Versiegelung des Gebäudes wurde schon vor einiger Zeit enfernt. Bis dahin war der Zutritt nur über einen Kriechtunnel, der die Fernwärmeleitung vom Plattenbau in das Sandhaus führte, möglich. Das Gebäude wird also entweder kommerziell umgestaltet oder durch die fehlende Versiegelung von Randalieren zerstört, wie im Fall des „Säuglings- und Kinderkrankenhauses Weißensee“ geschehen.
Alles Gründe genug, das alte Sanatorium im April 2022 nocheinmal zu besuchen und seine Geschichte anhand einiger Fotos noch einmal zu erzählen. Auch in diesem desolaten Zustand beeindruckt das Waldhaus heute noch von innen und außen. Der morbide Charme abbröckelnder Farbe in Fluren, deren Konturen nur im Restschein der mit Brettern vernagelten Fenster zu erkennen sind, ist beeindruckend.
Das gesamte Sanatorium ist bis auf eine alte Phönix-Nähmaschine aus den 1920er Jahren im Keller beräumt. Die verwaisten Liegesäle und die endlosen Flure mit ihren offenstehenden Türen zu den Krankenzimmern wirken gespenstisch. Beeindruckend ist der große Saal, in den man mühelos über die Terrasse gelangt. Jahrzehntelang ein Ort der Begegnung und Hoffnung, wartet er heute im Halbdunkeln auf seine Erweckung.
Autor: Christian Bormann
Red. Bearbeitung: Martina Krüger
Fotos: Christian Bormann, Guido Kunze, Immobilien Aktuell (04.10.2022)
Bormann's Pankower Chronik. Sagen, Mythen und Legenden aus Pankow. Autor Christian Bormann.